Was wollt ihr sein? Touristen oder Reisende?

Was ist Urlaub? Volkswirtschaftlich gesehen dient der Urlaub wie die Freizeit im Allgemeinen zur Wiederherstellung der Arbeitskraft. Denn die Arbeit soll der Mittelpunkt unseres Lebens sein. Sie dient der Erhaltung der Existenz, sie ist sinnstiftend und sie ist der Ort, an dem man seine Kreativität und Leistungsfähigkeit ausleben soll. Eine moderne Volkswirtschaft im Rahmen unserer globalisierten Welt ist erfolgreich, wenn ein Großteil ihrer Mitglieder diese Weltsicht teilt.

Zur Wiederherstellung der Arbeitskraft reicht es eigentlich aus, wenn man sich ein Bier aufmacht und einen halben Tag lang im Garten oder im Park den Vögeln beim Zwitschern zuhört. Wenn man intensiv mit seinen Kindern spielt, ausgedehnte Spaziergänge macht oder den ganzen Tag Videospiele zockt. Hauptsache man denkt nicht an die Arbeit und schaltet einmal richtig ab. Im Idealfall ist man am Ende des Urlaubs so sehr von seinen Lieblingsbeschäftigungen gelangweilt, dass man wieder richtig Lust auf die Arbeit hat.

Aufgrund der Begrenztheit der Urlaubszeit und der Freiheit, diese Zeit selber und individuell gestalten zu können, ist Urlaub jedoch auch die wertvollste Zeit im Leben. Wertvolle Zeit verschwendet man nicht einfach damit, seinen Fingernägeln beim Wachsen zuzuschauen. Diese Zeit soll besonders intensiv sein. Sie soll die schönste Zeit im Jahr sein. Sie soll den Horizont erweitern. Sie soll bleibende Eindrücke hinterlassen. Sie soll im absoluten Kontrast zum eintönigen Alltag stehen. Im besten Fall sollen diese Eindrücke die Mitmenschen auch noch beeindrucken. „Was hast du so im Urlaub gemacht?“ – „Oh, ich war Tauchen, Kiten, Mountainbike fahren, Klettern und Fallschirmspringen. Alles auf einmal. Willst du Fotos sehen?“

Fernreisen sind eine weitere ideale Möglichkeit, die Intensität der Urlaubszeit zu steigern. Diese Welt ist so riesig und unsere Zeit so begrenzt, dass es einem Lebenswerk gliche, wollte man alle Länder dieser Welt bereisen. Doch was macht man in der kurzen Zeit in der Fremde? Schließlich ist alles fremd, man spricht die Sprache nicht und findet sich nicht zurecht. Genau, man bereitet sich vor. Wofür gibt es schließlich Reiseführer, Reisedokumentationen und Sprachkurse? Und so reist man von einer Sehenswürdigkeit zur nächsten, trifft dabei Seinesgleichen, kauft Andenken und setzt bei den Selfies vor den Natur- und Kulturdenkmälern sein attraktivstes Kameralächeln auf. Im Restaurant sagt man brav „Guten Tag“, „Dankeschön“ und „Auf Wiedersehen“ in der fremden Sprache, so wie man es im Sprachführer gelernt hat. Und dann fliegt man wieder nach Hause und kann sagen: „Australien, da war ich auch schon einmal. Schönes Land, aber ganz schön teuer.“

Doch was bleibt wirklich? Sind es wirklich die ganzen Bilder von den Orten, die man zuvor in Büchern und im Fernsehen gesehen hat und die man am eigenen Leib erfahren hat? Ich bitte euch, an eine beliebige Fernreise zurückzudenken und euch an die intensivste Erfahrung zu erinnern. Was hat euch wirklich beeindruckt? Das, was ihr erwartet habt, was ihr geplant habt? Oder etwas völlig Fremdes? Etwas, mit dem ihr nicht gerechnet habt, z.B. ein seltsamer Tierlaut, ein völlig überraschender Geschmack oder Geruch, die Stille in der Steppe, ein Sternenhimmel ohne Lichtverschmutzung, eine herzliche Begegnung mit einem fremden Menschen?

Stellt euch bitte einmal vor, die wertvolle Zeit ist im Überfluss vorhanden und ihr könnt euch von dem Zwang lösen, nichts verpassen zu dürfen. Dann legt den Reiseführer und die Kamera beiseite, besorgt euch ein Auto und fahrt durch die Gegend. Das Ziel kann völlig banal sein, z.B. immer in eine Himmelsrichtung oder an einen weit entfernten Ort, an dem ihr noch nie wart. Dann entdeckt ihr magische Orte und lernt fremde Menschen kennen. Plötzlich seid ihr keine Touristen mehr, keine Dollarzeichen in den Augen der Menschen, deren Heimat ihr besucht. Dann seid ihr für die fremden Menschen genauso exotisch wie diese für euch sind. Erst dann können echte Begegnungen und ein echter Austausch stattfinden. Wenn ihr soweit seid, dann seid ihr Reisende, aufgeschlossen für das Fremde und Botschafter der eigenen Kultur.

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