Lesen bildet

Seit neuestem lese ich morgens immer eine Stunde lang brasilianische Online-Zeitschriften, um mein Portugiesisch zu verbessern. Dabei bin ich über einen Artikel mit diesem Titel in der Brasilianischen Post gestolpert:

Sesc divulga nota de esclarecimento após peça polêmica com dedos no ânus

Übersetzt lautet der Titel: „Der SESC veröffentlicht eine Klarstellung nach einem polemischen Stück mit Fingern im Anus“.

„SESC“ steht für „Serviço Social do Comércio“ und bedeutet soviel wie „Sozialdienst des Handels“, einer privaten gemeinnützigen brasilianischen Organisation, die von Handels-, Dienstleistungs- und Tourismusunternehmen finanziert wird mit dem Hauptziel, das soziale Wohlbefinden der Angestellten und deren Familien zu verbessern sowie das der allgemeinen Öffentlichkeit. Das Betätigungsfeld der SESC liegt in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Freizeit, Kultur und Soziales.

Was war geschehen? Im Rahmen einer jährlichen einwöchigen Veranstaltung namens „Mostra SESC Cariri de Culturas“ (übersetzt: Kulturelle SESC-Ausstellung der Region Cariri, oder so ähnlich) wurde ein Performance namens „Macaquinhos“ (frei übersetzt: Äffchen) basierend auf dem Buch „Das brasilianische Volk“ des Autors Darcy Ribeiro aufgeführt, in der acht nackte Männer und Frauen im Kreis laufen und sich dabei gegenseitig den Finger in den Popo stecken. Das Ganze hätte wohl kaum Aufsehen erregt, wenn nicht jemand im Publikum so geistesgegenwärtig gewesen wäre, die Szene mit seinem Smartphone zu filmen und auf Youtube zu stellen.

Vermutlich um rechtliche Schritte gegen die Veranstaltung vorzubeugen hat die Leitung der Veranstaltung nun eine Klarstellung veröffentlicht, die übersetzt wie folgt lautet:

Der SESC, eine durch die Handelsgesellschaften unterhaltene private Einrichtung, stellt hiermit öffentlich klar, dass die 17. Durchführung der „Mostra SESC Cariri de Culturas“ in 28 Gemeinden der Region Cariri den kostenlosen Zugang zu Kultur mit  unterschiedlichsten Ausstellungen fördert. Dieses Jahr hatten mehr als 200.000 Menschen Zugang zu 127 Aufführungen, welche in gänzlicher und voller Autonomie ausgesucht wurden anhand der in der Auschreibung der Kuratorengruppe festgelegten Kriterien. Dem SESC obliegt es gemäß der brasilianischen Verfassung nicht, irgendeine Art der Zensur auszuüben.

In Bezug auf die Präsentation „Äffchen“, basierend auf dem Buch „Das brasilianische Volk“ von Darcy Ribeiro, macht der SESC deutlich, dass er sich versichert hat, dass nur die interessierte Öffentlichkeit Zugang zu der betreffenden Aufführung hatte. So wurden alle Informationen im Vorfeld zur Verfügung gestellt, eine Klassifizierung auf 18 Jahre wurde festgelegt und die Zeit für die Präsentation auf 23 Uhr gelegt, Zugang nur mit Vorlage des Ausweises.

Der SESC hat weiterhin Vorsorge getroffen, keinerlei Bilder der Aufführung zu veröffentlichen in dem Sinne, dass Menschen außerhalb der festgelegten Altersgruppe einen Zugang zu den Inhalten haben sollten. Der SESC unterstützt nicht die Veröffentlichung der Aufführung und lehnt deren Verbreitung in sozialen Netzwerken ab.

Der SESC erfüllt damit seine Pflicht zur Wahrung des künstlerischen Schaffens bezüglich der Vielfältigkeit und der Formung des kritischen und autonomen Bewusstseins.

Die Leitung der Mostra SESC Cariri de Culturas

Ich dachte, nur die Deutschen könnten so herrlich gestelzt formulieren, wenn es darum geht, die Quadratur des Kreises zu erklären. Im Originaltext waren die Sätze sogar noch verschachtelter, so dass eine direkte Übersetzung kaum Sinn ergeben hätte.

Was ist die Nachricht der Klarstellung? Vordergründig: Künstlerische Freiheit ist per Gesetz unantastbar und der Veranstalter hat alles unternommen, um den Jugendschutz zu gewährleisten. Und die eigentliche Nachricht: Wir haben Angst, dass man uns anzeigt und dass uns der Geldhahn zugedreht wird.

Als ob künstlerische Freiheit tatsächlich unantastbar ist! Diejenigen, welche die Kunst finanzieren, haben immer das letzte Wort. Die öffentliche Stellungnahme der Veranstaltungsleitung ist der Beweis, dass selbst sie nicht an die künstlerische Freiheit glaubt, sonst würde sie sich nicht in dieser Form rechtfertigen. Ich bin mir sicher, dass im nächsten Jahr eine derartige Aufführung nicht stattfinden wird und wenn doch, dann werden mit Sicherheit vorher alle Kameras und Smartphones eingesammelt.

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