Bruna – ein Gastbeitrag von Sylvia

“A Senhora vai pagar isto para mim?” – Ich stehe im Carrefour vor der Kasse, sortiere mich selbst und will mich gerade mit einem prall gefüllten Einkaufswagen an einer vielversprechend kurzen Warteschlange anstellen. Es ist einer dieser riesigen Carrefours, die es scheinbar auf dem halben Erdball gibt und den wohl die meisten von uns in einem Frankreichurlaub irgendwann einmal kennengelernt haben. Die Regale sind schier endlos lang und hoch und es gibt so ziemlich alles, was man für den Alltag braucht oder auch nicht braucht. “A Senhora vai pagar isto para mim?” – Ich stehe auf der Leitung und erblicke mit einem vermutlich selten dämlichen Gesichtsausdruck ein sehr hübsches Mädchen mit langen schwarzen, zu einem Pferdeschwanz gebundenen Haaren, das mich mit großen dunkelbraunen Augen gleichzeitig schüchtern und erwartungsvoll anschaut. Doch da ist noch mehr. Da ist Scheu und Scham. Da ist Traurigkeit und Hoffnung. Da ist Verantwortung und Last. Und irgendwo hinter all dem ist da noch das Kind, das es sicher schon lang nicht mehr sein durfte. Jetzt erst dringen Sinn und Absicht ihrer Worte zu mir durch „Wird die Senhora das hier für mich bezahlen?“ In ihren Armen stapelt sie drei Teile, die sie einkaufen möchte und die sie offensichtlich nicht bezahlen kann: eine weiße Styroporschale mit Bratwürsten in Zellophan verpackt, ein paar sehr einfache blaue Havaianas (Flip-Flops – die billigsten) und ein tiefgefrorenes Hähnchen. Letzteres sieht gedrückt an ihrem kleinen Körper riesig aus. Sie regt sich nicht vom Fleck, atmet kaum. In Sekundenbruchteilen geht mir wieder einmal alles durch den Kopf was ich über bettelnde Kinder gelernt habe. Man darf ihnen nichts geben, weil sie das dann als Bestätigung sehen, … weil ihre Eltern sie dann weiter zum erbetteln des Lebensunterhaltes missbrauchen, … weil sie dann der Schule noch weniger Aufmerksamkeit schenken und sie ihr noch so junges Leben verwirken, … weil …. „In Ordnung, leg deine Sachen hier zu meinen aufs Band.“ Ihr „Danke“ ist leise, ihr Blick wandert zum Boden. Ich spüre, wie sehr sie sich wegwünscht aus dieser Situation, wie groß ihre Scham ist. Ich fühle mich hilflos und denke: Wenn ich ihr schon nicht wirklich helfen kann, dann will ich sie wenigstens aus dieser unwürdigen Situation befreien. Richtig oder falsch? Wer sind wir, das beurteilen zu können?

Sie heißt Bruna und ist zwölf Jahre alt. Sie hat sechs Geschwister. Der älteste Bruder ist 22, der jüngste ist 6 Jahre alt. Sie fragt höflich, ob sie mir helfen kann, meine Sachen aufs Band zu legen. Ich bejahe und sie ist erleichtert, etwas zurückgeben zu können. Als der Einkaufswagen geleert ist, hilft sie auf der anderen Seite der Kasse Karsten, die Waren in die große Einkaufskiste zu verstauen. Ein kleiner hübscher Junge, ihr sechsjähriger Bruder, gesellt sich zu ihr. Er hat dieselben großen dunklen traurigen Augen und kurze schwarze krause Haare. Auch er hat eine spärlich gefüllte Carrefour-Einkaufstüte in der Hand. Offensichtlich haben sich die Geschwister aus strategischen Gründen vor der Kasse getrennt. Ihr Einkaufsgut fischt sie aus unseren vielen Sachen heraus und steckt sie in eine Einkaufstüte. Ungeschickt lege ich noch zwei KitKat drauf, die ich gerade noch aus einem Pappkarton neben der Kasse angeln kann. Ich bin froh, dass sie sich nach einem weiteren schüchternen „Danke“ dann schnell verabschiedet und nicht mehr sieht, wie ich die 1.000 Reais (rund 250 Euro) für unseren Mega-Einkauf auf die Theke blättere. Irgendwie schäme ich mich plötzlich für meinen „Reichtum“.

Kaum haben wir den Laden verlassen, kann ich meine Tränen nicht mehr zügeln. Was mich so berührt, ist nicht einmal das Betteln an sich. Was mich so trifft ist viel mehr die Scham der Kleinen, die Pein. Sie wollte nicht betteln, das sah man sehr deutlich. Sie hatte aber offensichtlich keine Wahl. Vielleicht wurde sie geschickt von den Eltern, vielleicht wurde sie von ihnen allein gelassen. Wer weiß das schon. Die Metafrage für mich ist vielmehr, warum war ausgerechnet sie in einer solchen Situation? Was kann sie dafür, dass sie in einem sozialen Brennpunkt der Vorstädte Brasilias und nicht ein paar Kilometer weiter in einer der reichen Familien am Lago Sul geboren wurde?

In diesem Moment wurde sie für mich zur Stellvertreterin für die vielen Menschen hier, die mit ganz wenig auskommen müssen oder gar in Armut leben – in Kirschkernweitspuckdistanz zu der reichen Oberschicht und zum Teil auch sehr eng mit ihr verwoben. Die soziale Ungleichheit trifft hier mit voller Wucht aufeinander. Wenn ich morgens mit dem Auto aus unserem Condomínio zur Arbeit fahre, wie viele meiner Nachbarn, kommen mir zu Fuß die Reinigungshilfen und Gärtner entgegen, Tagesangestellte die jegliches Einkommen verlieren, sobald sie krank werden. An den Ampeln verkaufen junge Männer Putztücher, Mülltüten, Kaugummis oder Wasserflaschen, um sich von dem bisschen Gewinn zu ernähren. Auf den Parkplätzen arbeiten sie als „Einweiser“ und waschen für ein paar Reais die Autos der „Reichen“. Auf den breiten Grünstreifen der Autostadt Brasilia, an denen tagtäglich tausende Neuwagen und manchmal echte Luxuskarren langbrettern, leben Familien mit kleinen Kindern in Plastikplanen-Barracken. Die Kleinen und Kleinsten spielen am Lagerfeuer, keine 10 Meter entfernt von der 6 Spurigen Fahrbahn, das ist ihr Zuhause.

Warum ausgerechnet sie? Warum nicht ich oder du, die wir doch nur genauso zufällig in einem der reichsten Länder dieser Erde geboren wurden. In einem Land, das – verglichen mit dem Rest der Welt – dem Ideal der sozialen Gerechtigkeit schon ziemlich nah kommt. In dem seit 70 Jahren kein Krieg mehr ausgetragen wurde. Mit einem Bildungssystem, das auch Kindern aus Arbeiterfamilien wie mir und vielen anderen einen Hochschulabschluss und ein Leben in Wohlstand ermöglicht.

2013 lebten in Brasilien 52 Millionen Menschen ohne Ernährungssicherheit. Das entspricht zwei Drittel der Deutschen Bevölkerung. Von ihnen wissen 34,5 Millionen Menschen heute nicht, ob sie sich und ihre Familien morgen, übermorgen oder nächste Woche noch ausreichend ernähren können. Die anderen 17,5 Millionen Brasilianerinnen und Brasilianer – inklusive Kinder – verfügen de facto nicht über ausreichende Nahrung oder leiden unter chronischem Hunger (Quelle: PNAD 2013). So viele Menschen leben in Nordrhein-Westfalen.

Nun werden wir das Problem hier und heute nicht lösen können, das ist richtig. Was wir aber tun können ist ein kleines bisschen von dem abgeben, was wir haben. Beträge, die uns nichtig erscheinen, können anderswo „den Unterschied“ machen. Schon 5 Euro bedeuten Impfungen, Lernmaterialien, Nahrung. Es gibt unzählige gute Hilfsorganisationen in Deutschland, die dafür sorgen, dass Geld da ankommt, wo es gebraucht wird. Das kann ein Waisenhaus in Brasilien sein oder auch der Kindergarten um die Ecke. Bei den größeren Organisationen gelingt Spenden mit wenigen Klicks in 5 Minuten, wie z.B. bei Ärtze ohne Grenzen e.V. oder ChildFund Deutschland. Kleineren Projekten, wie beispielsweise der Initiative Feuervogel in Aachen für Kinder suchtkranker Eltern, kann man mit einer Banküberweisung Spenden zukommen lassen. Es klingt so abgedroschen, aber jeder Euro zählt.

Wer sich genauer erkundigen möchte, ob sein Geld auch gut angelegt wird, der kann einen Blick auf die Seite des Deutschen Zentralinstituts für soziale Fragen werfen. Unter folgendem Link gibt es einer Liste mit zertifizierten Organisationen.

Und wer von euch an dieser Stelle einen Spenden-Tipp loswerden möchte, sei dazu herzlich eingeladen. Oder schreibt einfach, wo ihr dieses Jahr gespendet habt.

Schöne Tage und frohe Weihnachten wünscht euch

Sylvia!

7 Gedanken zu „Bruna – ein Gastbeitrag von Sylvia

  1. Hallo Ihr Lieben!
    Ich wünsche Euch zunächst einmal ein fröhliches Weihnachtsfest!
    Dann die Aktion mit dem Mädchen ist toll. Ich habe vor ein paar Tagen ein Buch für die ‚Sprachpaten‘-Aktion hier in AC gekauft. Das beinhaltet Lernbücher die an Einrichtungen gehen, in denen Flüchtlinge unsere Sprache nahe gebracht werden und Lehrende eine gute Hilfestellung bekommen. Ich finde es eine gute Sache…ich weiß nicht, wie viel Ihr bislang über die Flüchtlingssituation aus den Kriegsgebieten mitbekommen habt, denn es sind reichlich viele zu uns gekommen….und denen sollte und muss geholfen werden. Das ist zwar nur ein kleiner Beitrag…aber es ist einer denke ich ;).
    Ich grüße und drücke Euch

    #Dani

    • Hallo Dani,

      wir verfolgen in den Medien, welcher Herausforderung sich u.a. Europa gerade mit der Flüchtlingszuflucht stellt. Aus Deutschland sind unsere Infos etwas hautnaher, von Freundinnen und Freunden, die auch zum Teil aktiv als Ehrenamtler mit anpacken. In Aachen beispielsweise hält Sirit die Fahne hoch und hilft einige Stunden in der Woche in einem Flüchtlingslager (ich vermittle gerne den Kontakt, falls noch jemand mitmachen möchte). Trotz dieser Berichte, werde ich die Situation jedoch nicht in ihren Einzelheiten „nachfühlen“ können. Dafür bin ich zu weit weg.

      Die Sprachpaten-Aktion klingt klasse! Wie funktioniert das? Wie kann man sich beteiligen?

      • Hallo Sylvia, das funktioniert so: es sind ein paar Buchhandlungen beteiligt (außer der Meyerschen!) fast alle. Dort ist (meist an der Kasse) eine weiße Box, in der div. passende Bücher sind. Von denen nimmt man sich eins, bezahlt es und der Buchhändler gibt es an die passenden Einrichtungen. (Es sind meistens Sprachbücher 🙂 ). Da die Kleiderspendenlager (nach meiner Info) übervoll sind, habe ich mich mit Geldspende und solch einem Buch beteiligt. Sofern es dich interessiert, kann ich gerne für dich ein Buch kaufen (Preise so um die 30,-).
        LG und einen tollen Rutsch
        Dani

  2. Euch auch erstmal frohe Weihnachten!!! Ich kann mich gut an meinen Aufenthalt in Uganda erinnern, wo arm und reich auch extrem zu sehen waren, man an Flüchtlingscamps vorbei geht, ich in einem Flüchtlingscamp selber war… Überall in Uganda kleine Kinder mit aufgerissenen dreckigen Hosen und T-Shirts rumliefen… Man kommt sich so schlecht vor,weil man aus dem privilegierten Westen kommt und es wird einem bewusst wie ungerecht dieser Zustand ist. Dennoch habe ich viele arme aber glückliche Menschen gesehen. Auf der Reise haben wir einen Jungen kennen gelernt, der uns sein Dorf gezeigt hat. Diesen Jungen haben wir seither unterstützt. Er hat die Schule beenden können, studieren können und hat nun seine eigene Hilfsorganisation in Uganda gegründet. Auch diese wird unterstützt. Auch nur ein kleiner Beitrag…

    Drück euch ganz doll!
    Imke

    • Hallo Imke,

      das klingt ja nach einem richtigen EZ-Projekt… Hilfe zur (späteren) Selbsthilfe. Cool. Falls du hier den Link der Organisation teilen möchtest, gerne.

      Das was du über das Glücklichsein schreibst, finde ich wichtig. Arm ist nicht immer gleich unglücklich und reich ist nicht stets glücklich. Laut „Internationalem Glücksatlas“ stand Deutschland 2013 auf Platz 51 von 138 Ländern. Brasilien war knappe zwei Plätze glücklicher als Deutschland (das war noch vor dem 7:1). Nach der Studie waren die Menschen in Paraguay die weltweit glücklichsten. Am unglücklichsten waren die Menschen in Syrien (was wenig überrascht). Wenn ich richtig gezählt habe lag Uganda mit Platz 76 im Mittelfeld des weltweiten Glücksindex.

  3. Liebe Sylvia,
    danke für diesen einfühlsamen und eindringlichen Kommentar. Schlimmer fast als die Scham die einen beim ersten Kontakt mit bettelnden Kindern überkommt (ging mir in Indien und Russland) ist die Abgebrühtheit mit der man später man auf das hundertste reagiert. Auch Elend wird irgendwann zur Gewohnheit, dann zur Realität.

    Hoffe es geht Euch gut in Down Under und wünsche Euch ein frohes Weihnachtsfest. Trotz dem und vielleicht gerade auch deswegen
    Gruss, Jan

    • Lieber Jan,

      freut mich, dass dich der Beitrag anspricht. Von der Abgebrühtheit, die du beschreibst, bin ich (noch?) weit weg. Bruna war nicht das erste bettelnde Kind, das ich getroffen habe. Aber eben auch noch nicht das Hundertste. Brasilia ist eine Elitestadt, in der man sich durchaus Monate bewegen kann, ohne bettelnden Kindern zu begegnen. Wenn man will.
      Als wir im Nordosten in den ärmsten Bundesstaaten Brasiliens unterwegs waren, haben wir auf dem Land viel Armut gesehen, aber keine bettelnden Menschen. Ich habe mich länger mit meiner brasilianischen Nachbarin darüber ausgetauscht. Sie hat viele Jahre in Rio gelebt und erzählt von ihrer Erfahrung, die deiner sehr ähnelt. Es sind die Ballungsräume, wo Reichtum und Armut so krass aufeinanderklatschen, ineinandergreifen, sich bedingen.

      Wer zwischen den Jahren noch ein wenig Muße hat, dem oder der empfehle ich einen Ausflug in die Cidade dos Homens. Das ist eine brasilianische Fernsehserie über das Leben in einer Favela in Rio de Janeiro. Zwei Jungs um die 13 sind die Protagonisten (zumindest in der ersten Staffel – in der vierten Staffel sind sie schon 17). Die Serie wurde im Anschluss an den Film Cidade de Deus gedreht, zum Teil mit denselben Darstellern. Fast alle Darsteller in den Filmen sind Laienschauspieler, die aus den Favelas selbst für den Film gewonnen wurden.

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