Auslöser der politischen Krise in Brasilien war ein riesiger Korruptionsskandal mit mehreren Milliarden Euro Bestechungsgeldern namens „Lava Jato“ (Autowäsche), in den ein Großteil der Abgeordneten aller Parteien der brasilianischen Abgeordnetenkammer (vergleichbar mit dem Bundestag) verwickelt ist. Zulieferfirmen des halbstaatlichen Ölkonzerns Petrobras haben Politiker bestochen, um Aufträge von Petrobras zu erhalten.
Die derzeit noch amtierende Präsidentin Dilma Rousseff war von 2003 bis 2010 Aufsichtsratsvorsitzende von Petrobras. Obwohl es keine Verdachtsmomente wegen Korruption gegen sie gibt und sie die Aufklärung des Skandals unterstützt, glaubt ihr die brasilianische Öffentlichkeit nicht, dass sie nicht in den Skandal verwickelt ist. Diese Sichtweise oder auch Spekulation – so muss man das rechtlich korrekt ausdrücken – wird von einem Großteil der Medien in Brasilien verbreitet. Die Fehlinformation geht soweit, dass man sogar in vielen deutschen Online-Zeitungen wie Spiegel oder Süddeutsche immer wieder liest, dass die Präsidentin wegen Korruptionsvorwürfen ihres Amtes enthoben werden soll. Diese Information ist definitiv falsch. Hier wird aufgrund schlechter Recherche bewusst oder unbewusst kritiklos die brasilianische Berichterstattung übernommen. Das kann man u.a. hier nachlesen. Die Medienlandschaft in Brasilien wird beherrscht von dem Konzern „Rede Globo“, der eine rechtskonservative Meinung vertritt, die Militärdiktatur von 1964 bis 1983 unterstützt hat und sich deutlich sichtbar gegen die Präsidentin sowie deren Arbeiterpartei Partido dos Trabalhadores (PT) positioniert. Gegner des Amtsenthebungsverfahrens sprechen daher von einer Medienkampagne.
Im Gegensatz zu Dilma Rousseff gibt es jedoch eine ganze Reihe von Abgeordneten, gegen die es erhebliche Verdachtsmomente wegen Korruption und die Verwicklung in den Lava Jato-Skandal gibt. Diese Abgeordneten sind aber aufgrund ihres Mandates wie in Deutschland immun gegen Strafverfolgung. Einer dieser Abgeordneten ist der evangelikale Politiker Eduardo Cunha, von der Partei Partido do Movimento Democrático Brasileiro (PMDB). Gegen ihn läuft bereits in der Schweiz ein Verfahren wegen Geldwäsche, da er insgesamt 40 Millionen Euro an Bestechungsgeldern auf fünf Schweizer Konten versteckt haben soll. Er hat die Ermittler selbst auf die Fährte gebracht, nachdem er die Konten von seinem Namen auf den Namen seiner Frau hat umschreiben lassen. Gegen ihn wurde eine Ethikkommission im Abgeordnetenhaus ins Leben gerufen, um über die Aufhebung seines Mandats und damit seiner Immunität zu entscheiden. Im Dezember 2015 wurde er trotz seiner Verwicklung in den Bestechungsskandal zum Präsidenten der Abgeordnetenkammer gewählt, nach dem Amt des Präsidenten und Vizepräsidenten das dritthöchste Amt des Landes. Obwohl die Partei Cunhas bis Mitte März 2016 Teil der Regierungskoalition mit der Arbeiterpartei PT war, war eine seiner ersten Amtshandlungen als Präsident der Abgeordnetenkammer das Stattgeben eines Amtsenthebungsverfahrens gegen Dilma Rousseff. Ein Impeachment, wie die Amtsenthebung in Brasilien genannt wird, darf jeder beantragen, doch die Entscheidung, ob dieses Verfahren auch eingeleitet wird, liegt beim Präsidenten der Abgeordnetenkammer.
Im Gegensatz zur Vertrauensfrage oder dem konstruktiven Misstrauensvotum im deutschen Bundestag, kann der brasilianische Präsident bzw. die brasilianische Präsidentin nur des Amtes enthoben werden, wenn er oder sie eine Straftat begangen hat. Der offizielle Grund für das Verfahren gegen Dilma Rousseff ist die bewusste Beschönigung des Haushaltes 2014, um ihre Wiederwahl in diesem Jahr zu gewährleisten. Haushaltsbeschönigungen in der Form, wie man sie der Präsidentin vorwirft, sind jedoch in jedem Jahr von bisher jedem Präsidenten vorgenommen worden, ohne die Einleitung eines Impeachmentverfahrens.
Der brasilianische Vizepräsident Michel Temer, gegen den auch Verdachtsmomente der Korruption vorliegen, ist in derselben Partei wie Eduardo Cunha, der PMDB. Trotz des Treibens Cunhas gegen die Regierungschefin stand er zunächst zu der Koalition. Doch nachdem das Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma Rousseff im Laufe des Jahresbeginns immer konkreter wurde, verließ die PMDB Mitte März die Koalition mit der PT. Da es in Brasilien keine Prozenthürde gibt, sind insgesamt 25 Parteien in der Abgeordnetenkammer vertreten, 12 davon haben die Regierungskoalition gebildet. Im Falle einer Amtsenthebung rückt Michel Temer zum Präsidenten auf und bleibt dies auch bis zum Ende der Legislaturperiode 2018.
Am 17. April fand der erste Schritt des Amtsenthebungsverfahrens statt, die Abstimmung im Abgeordnetenhaus. Mit den Stimmen der PMDB sowie einer weiteren Partei, welche die Koalition mittlerweile verlassen hatte, stand die Zweidrittelmehrheit, die für die Fortführung des Impeachmentverfahrens notwendig war. Wer sich die 10-stündige Sitzung ansehen will, kann das hier tun: https://www.youtube.com/watch?v=V-u2jD7W3yU. Wenn man den Begründungen der Abgeordneten folgt, dann weiß offenbar ein Großteil von denen, die für das Impeachment stimmten, überhaupt nicht, warum die Amtsenthebung überhaupt erfolgt. Diese Sitzung hat einmal mehr deutlich gemacht, dass man in Brasilien die Politik der Arbeiterpartei für die Korruption und die wirtschaftliche Rezession im Land verantwortlich macht. Beides kann man bei näherer Betrachtung zumindest stark anzweifeln.
Der nächste Schritt ist eine einfache Mehrheit für die Amtsenthebung im Senat (vergleichbar mit dem Bundesrat). Die Abstimmung soll diese Woche stattfinden. Die Mehrheit für die Fortführung der Amtsenthebung ist bereits deutlich absehbar. Danach wird die Präsidentin zunächst für 180 Tage gesperrt. Interimspräsident wird der Vizepräsident. Nach dieser Zeit muss dann der Oberste Gerichtshof die Verdachtsmomente gegen die suspendierte Präsidentin untersuchen. Dann findet eine Abstimmung im Senat zur endgültigen Amtsenthebung statt, die bei einer Zweidrittelmehrheit in Kraft tritt.
In der letzten Woche hat überraschenderweise derselbe Oberste Gerichtshof entschieden, Eduardo Cunha seines Amtes vorübergehend zu entheben, bis die Ethikkommission endgültig über sein Mandat entschieden hat. Zu belastend waren offenbar die strafrechtlich relevanten Vorwürfe gegen ihn, so dass man verhindern wollte, dass er beim Ausfall von Michel Temer sogar als Präsident nachrücken könnte. Sein Mandatsverlust hatte wiederum zur Folge, dass ein Abgeordneter namens Waldir Maranhao als vorübergehender Präsident des Abgeordnetenhauses nachrückte. Obwohl dieser ein Vertrauter Cunhas ist, entschied er gestern, die Abstimmung im Abgeordnetenhaus vom 17. April für ungültig zu erklären, da man der Präsidentin nicht das Recht eingeräumt hatte, sich vorher angemessen zu verteidigen. Doch keine 24 Stunden später hat Maranhao seine Entscheidung bereits widerrufen, so dass jetzt doch diese Woche die Abstimmung im Senat stattfinden kann. Wer die Netflix-Serie „House of Cards“ gesehen hat, kann sehr viele Parallelen zur aktuellen brasilianischen Politik erkennen.
Abschließend könnte man die Frage stellen, warum Dilma Rousseff nicht zurücktritt und damit die Verantwortung für den Korruptionsskandal übernimmt, der auch ihre eigene Partei betrifft. Doch ein Rücktritt bedeutet, die Macht ausgerechnet denjenigen Politikern und derjenigen Partei zu überlassen, die am tiefsten in den Korruptionsskandal verwickelt sind. Eigentlich wäre es das Beste für das Land, wenn jetzt Neuwahlen stattfänden. Doch das sieht die brasilianische Verfassung nicht vor.
Am Beispiel Brasiliens kann man einmal mehr die Schwächen von präsidialen Demokratien erkennen. 1983 hatten wir in Deutschland eine ähnliche Situation. Die FDP unter Genscher brach die Koalition mit der SPD auf, und die CDU stellte im Bundestag die Vertrauensfrage. Eine Mehrheit sprach sich gegen das Vertrauen in Kanzler Helmut Schmidt aus, und Neuwahlen wurden eingeleitet. Das war der Beginn der Ära Kohl und der Koalition zwischen CDU und FDP. Was damals in Deutschland relativ nahtlos vonstattenging, ist in Brasilien nicht möglich, da der Präsident / die Präsidentin vom Volk gewählt wird und umfangreiche Befugnisse hat.
So oder so werden die nächsten zwei Jahre ein reiner Hickhack in der brasilianischen Politik. Bleibt Dilma Rousseff an der Macht bzw. erhält sie diese nach 180 Tagen vom zurück, dann fehlt ihrer Regierung die Mehrheit im Abgeordnetenhaus. Ein Stillstand der Gesetzgebung wäre die Folge. Gelangt Michel Temer an die Macht, dann hat Brasilien einen Präsidenten, den es nicht gewählt hat und der zunächst auch keine Mehrheit im Abgeordnetenhaus hat. Es hat zwar eine Zweidrittelmehrheit für das Impeachment gegen Dilma Rousseff gestimmt, jedoch nicht für die Politik der PMDB. Ausgerechnet diese Partei, die keine politische Richtung vertritt und deren Abgeordnete besonders in den Bestechungsskandal verwickelt sind, muss jetzt eine Regierungskoalition gegen die stärkste Partei, die Arbeiterpartei PT, zusammenbekommen.
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