Zwischendurch etwas Politik

Beitrag aus Amerika21: Brasilien legalisiert Haushaltstricks, die Präsidentin das Amt kosteten.

Wer bisher noch immer glaubt, die Kritik gegen die Absetzung Dilma Rousseffs sei linke Propaganda, kann sich selbst in Leitmedien wie Spiegel Online vom Gegenteil überzeugen: Eine historische Ungerechtigkeit.

Ouro Preto – Mit dem Gold aus dieser Stadt wurden in Portugal Schlösser gebaut und Kriege finanziert

Ouro Preto (auf Deutsch: Schwarzes Gold) ist eine 70.000-Seelen-Kleinstadt in den Bergen südlich von Belo Horizonte. In seiner Blütezeit im 18. Jahrhundert lebten hier über 100.000 Menschen, größtenteils Sklaven, die in den Minen rund um die Stadt Gold förderten, mit welchem die portugiesische Krone ihre Macht in Europa ausbaute.

Da die Stadt von Kolonialisten im 18. Jahrhundert erbaut wurde, sieht sie so gar nicht aus wie der Rest Brasiliens. Zur Erinnerung: Brasiliens Städte sehen in weiten Teilen so aus:

Typisch Brasilien

Brasilien ist in den letzten 200 Jahren schnell gewachsen. Ziegelsteine, Beton und Improvisationstalent sind da eher gefragt als Putz, Stuck und Ornamente. Immerhin gibt es noch die Architekturperle Brasília, Weltkulturerbe:

Brasilia

Verdammt, ich habe das Gefühl, das macht es auch nicht besser. Lassen wir es vielleicht einfach bei der Aussage: Brasiliens Durchschnittsstadt ist eher unattraktiv. Ungefähr so unattraktiv wie eine Ruhrgebietsstadt, die im Zweiten Weltkrieg zerbombt und danach schnell und billig wieder aufgebaut wurde.

Kommen wir lieber wieder zurück zu Ouro Preto. Was man heute dort bewundern kann, ist die Geschichte der reichen und hochnäsigen weißen Kolonialisten aus Europa, welche keine Skrupel hatten, die indigenen Ureinwohner abzuschlachten und Sklaven aus Afrika für sich arbeiten zu lassen. Nirgendwo findet man in der Stadt einen Hinweis darauf, unter welchen Umständen der Großteil ihrer Bevölkerung gezwungen war zu leben und zu arbeiten. Erst außerhalb der Stadt, auf dem Weg in ein weiteres Kolonialstädtchen namens Mariana, kann man eine Goldmine namens „Mina da Passagem“ besuchen, die in ihrem Ausbau und ihrer Technik jedoch auf dem Stand der 80er Jahre ist, als man dort den Betrieb eingestellt hat. Da man im 18. Jahrhundert noch nicht über Dynamit verfügte und die Schächte und Stollen noch mit der Hacke in den Fels hauen musste, waren die Gänge zu dieser Zeit ganz sicher nicht so komfortabel ausgebaut, wie auf den folgenden Bildern zu sehen ist.

In vielen Souvenierläden Brasiliens findet man heute noch Figuren, die ein Bild von der schwarzen, versklavten Bevölkerung Brasiliens darstellen, welches zwar niedlich aussieht, jedoch nichts anders als pure Diskriminierung ist.

Bild der Farbigen in Brasilien

Und mit der neuen Regierung, die mithilfe eines Senats, der zur Hälfte aus Politikern besteht, gegen die wegen Korruption ermittelt wird, an die Macht gekommen ist, wird die Diskriminierung ganz offen fortgesetzt. Über die Hälfte der Bevölkerung Brasiliens ist dunkelhäutig. Nicht ein einziger dunkelhäutiger Politiker ist in der Regierung Michel Temers vertreten.

Die politische Entwicklung in Brasilien

Für diejenigen, die der englischen Sprache mächtig sind, empfehle ich diesen Artikel des in Brasilien lebenden amerikanischen Pulitzer-Preisträgers Glenn Greenwald: https://theintercept.com/2016/06/30/major-new-brazil-events-expose-the-fraud-of-dilmas-impeachment-and-temers-corruption/

Ich mag nicht mehr berichten. Mir wird einfach nur schlecht, wenn ich die brasilianischen Nachrichten lese. Was hier in Brasilien stattgefunden hat, ist ein kalter Putsch, und die Welt tut so, als wäre alles mit rechten Dingen zugegangen. Ich habe zudem die Hoffnung in die Aufrichtigkeit der brasilianischen Justiz verloren, die offenbar Teil des Komplotts gegen die demokratisch gewählte Präsidentin Dilma Rousseff ist.

Teori Albino Zavascki…

… kennt kein Schwein. Es existiert noch nicht einmal eine Wikipediaseite von ihm in einer anderen Sprache als Portugiesisch.

Trotzdem ist er die derzeit wichtigste Person in Brasilien. Als Vorsitzender des Obersten Gerichtshof des Landes muss er entscheiden, ob er dem Antrag des Generalstaatsanwalts Rodrigo Janot stattgibt, den Vorsitzenden des Senats Renan Calheiros, den ehemaligen Staatspräsidenten und Senator José Sarney, den ehemaligen Vorsitzenden der Abgeordnetenkammer und Hauptantreiber des Amtsenthebungsverfahrens gegen Rousseff Eduardo Cunha sowie den zurückgetretenen Planungsminister und Vorsitzenden der PMDB Romero Jucá wegen Behinderung der Justiz zu verhaften. Diese vier Politiker sind alle Mitglieder der PMDB und haben sich auf den Audiomitschnitten des ehemaligen Ölmanagers Machado selbst entlarvt.

In zwei Jahren ist Richter Zavascki 70 und geht in den Ruhestand. Die Frage ist, ob er als positive oder negative Figur in die Geschichte seines Landes eingehen will. Wenn in den nächsten Wochen die Meldung kommt, dass er von seinem Amt zurückgetreten ist, dann wissen wir, wie er sich entschieden hat. Es erscheint undenkbar, dass er bei dieser Beweislage den Antrag ablehnen kann.

Mehr dazu: http://www.heise.de/tp/news/Haftantraege-gegen-fuehrende-Vertreter-der-De-facto-Regierung-in-Brasilien-3231653.html

Manipulation der Meinungsbildung

Das Weglassen von Nachrichten ist eine mächtige Form der Manipulation. „Der Spiegel“ ist Deutschlands einflussreichstes Nachrichtenmagazin und trägt hauptsächlich zur Meinungsbildung der Deutschen bei. Sein Internetableger „Spiegel Online“ schweigt seit einer Woche zu den aktuellen Enthüllungen in Brasilien, welche die offizielle Begründung für das Amtsenthebungsverfahren der Präsidentin Dilma Rousseff in einem äußerst zweifelhaften Licht erscheinen lassen. Die Audiomitschnitte von Gesprächen eines Ex-Ölmanagers, der eine Kronzeugenregelung mit der Staatsanwaltschaft vereinbart hat, mit hohen Amtsträgern wie zwei Ministern des neuen Kabinetts, dem Vorsitzenden des Senats sowie einem Ex-Staatspräsidenten Brasiliens beweisen, dass die Motivation für die Amtsenthebung nicht „Haushaltsmanipulationen“ Dilma Rousseffs ist. Tatsächlich ist es der bisher erfolgreiche Versuch hochrangiger brasilianischer Politiker, sich der Strafverfolgung der Staatsanwaltschaft wegen Korruptionsvorwürfen zu entziehen, welcher zur augenblicklichen Suspendierung der Präsidentin geführt hat.

Die Gesprächspartner des Ex-Ölmanagers reden sich in den Mitschnitten um Kopf und Kragen. Der Planungsminister Jucá wurde  wegen der Enthüllungen bereits nach zwei Wochen im Amt von diesem wieder entbunden. Derzeit fordern Berater des Interimspräsidenten Michel Temer, dass er auch dem Transparenzminister (ja, solche Ministerien gibt es in Brasilien) wegen seiner Kritik am Generalstaatsanwalt in den Audiomitschnitten den Rücktritt nahelegen sollte. Unterdessen verteidigt der Senatsvorsitzende Renan Calheiros seine Äußerungen zur Abschaffung der Kronzeugenreglung in den mitgeschnittenen Gesprächen als „politische Meinung“. Ausgerechnet der Senat wird letztendlich über die endgültige Amtsenthebung Dilma Rousseffs entscheiden. Die überwältigende Mehrheit im Abgeordnetenhaus sowie im Senat, die für die Einleitung bzw. Fortführung des Amtsenthebungsverfahrens gestimmt hat, ist in diesem Licht betrachtet ein Hinweis auf die Wirksamkeit der Maßnahmen der derzeit suspendierten Präsidentin zur Aufarbeitung des Korruptionsskandals sowie auf die Verbreitung der Korruption im brasilianischen Nationalkongress.

Während seit einer Woche kaum ein anderes Thema die Titelseiten der brasilianischen Zeitungen, auch die der Rede Globo-Presse, ziert, berichtet Spiegel Online über eine Massenvergewaltigung und über die  Gefahr des Zika-Virus für die Olympischen Spiele in Brasilien. Nicht, dass dies keine wichtigen Nachrichten wären, doch es sind eben nicht die Breaking News, die das Land gerade in Atem halten.

Wer Mainstream-Medien in Deutschland verfolgt, kann den Eindruck bekommen, das Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff wegen Korruptionsvorwürfen des Amtes enthoben wird, weil dies teilweise genau so berichtet wird. Dies ist jedoch faktisch falsch. Wenn dann auch noch Nachrichten über Beweise weggelassen werden, welche die Motivation der Betreiber des Amtsenthebungsverfahrens, die selber mit schweren Korruptionsvorwürfen konfrontiert oder im Ausland bereits de facto der Korruption überführt sind, entlarven, dann muss man an der Neutralität und Unabhängigkeit deutscher Mainstream-Medien wie dem Spiegel ernsthaft zweifeln.

Wer sich ein anderes, vielleicht auch neutraleres Bild von den Vorgängen in Brasilien machen möchte, empfehle ich folgende Links:

Neues aus Brasilistan

Die Geschehnisse in Brasilien entwickeln sich zu einem Politkrimi, den man sich als Schriftsteller kaum besser ausdenken kann.

Ein Ex-Politiker und Ex-Ölmanager mit dem wohlklingenden Namen José Sérgio de Oliveira Machado hat im März, kurz vor dem Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma Rousseff, konspirative Gespräche mit denjenigen, die das Verfahren gegen die mittlerweile suspendierte Präsidentin betrieben haben, geführt und auch heimlich aufgezeichnet. Er tat dies aufgrund eines Deals mit der Staatsanwaltschaft. Gegen ihn laufen Ermittlungen im Lava Jato-Korruptionsskandal.

Seit dem Regierungswechsel steht die Staatsanwaltschaft unter Druck. Der neue Justizminister hat bereits angedroht, dass der oberste Staatsanwalt nicht mehr lange im Amt bleiben wird. Als Reaktion darauf hat die Staatsanwaltschaft anscheinend damit begonnen, die Audiomitschnitte an die Zeitung Folha de S.Paulo zu lancieren. Am Montag veröffentliche die Zeitung die Aufzeichnungen des ersten Gesprächs zwischen Machado und dem neuen Planungsminister Romero Jucá von der PMDB, gegen den seit März 2015 Ermittlungen wegen Korruptionsverdacht laufen. Jucá bestätigt darin alles, was man bereits vermuten konnte: Das Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma Rousseff ist ein Komplott, um die Strafverfolgung gegen korrupte Politiker zu stoppen. Er sprach von einem Ende des „Blutvergießens“. Dieser Abschnitt, den Jucá geäußert hat, ist besonders brisant:
„Conversei ontem com alguns ministros do Supremo. Os caras dizem ‚ó, só tem condições de [inaudível] sem ela [Dilma]. Enquanto ela estiver ali, a imprensa, os caras querem tirar ela, essa porra não vai parar nunca‘. Entendeu? Então… Estou conversando com os generais, comandantes militares. Está tudo tranquilo, os caras dizem que vão garantir. Estão monitorando o MST, não sei o quê, para não perturbar.”

Übersetzung:
„Ich habe gestern mit einigen Ministern des Obersten Gerichtshofs gesprochen. Die Jungs haben gesagt: ‚Pass auf, es gibt nur Erfordernisse [unhörbar] ohne sie [Dilma]. Solange sie dort [im Amt] ist, wollen die Presse, die Jungs ihr [das Amt] wegnehmen, diese Scheiße wird nie aufhören.‘ Verstehst du? Nun… Ich bin im Gespräch mit den Generälen, den Militärkommandanten. Alles ist cool. Die Jungs sagen ihre Unterstützung zu. Sie überwachen die MST [Movimento dos Trabalhadores – Arbeiterbewegung], was weiß ich, damit sie nicht stören.“

Wie weit ist das Militär in die Machtübernahme verstrickt? Wie wird es sich verhalten, wenn die Proteste der Arbeiterbewegung eskalieren?

Jucá ist mittlerweile seines Ministeramtes entbunden worden.

Heute, am Mittwoch, wurde das zweite von Machado mitgeschnittene Gespräch mit dem Senatsvorsitzenden Renan Calheiros von der PMDB veröffentlicht. Der Senat in Brasilien ist in etwa vergleichbar mit dem deutschen Bundesrat und entscheidet letztendlich über die Amtsenthebung der zurzeit suspendierten Präsidentin. In dem Gespräch sagt Calheiros, gegen den auch Ermittlungen wegen der Verwicklung in den Lava Jato- sowie einen anderen Korruptionsskandal laufen, dass er eine Gesetzesänderung unterstützt, um die Kronzeugenreglung abzuschaffen. Die Kronzeugenreglung ist das zentrale Mittel, mit dem die Staatsanwaltschaft den Korruptionsskandal aufdeckt. Es ist das Mittel, das Machado dazu bewogen hat, seine alten Kumpels ans Messer zu liefern.

Heute Nachmittag berichtete die Folha de S.Paulo über die Inhalte eines dritten mitgeschnittenen Gespräches zwischen Machado und dem Ex-Staatspräsidenten José Sarney von der PMDB, der von 1985 bis 1990 Präsident von Brasilien war. Ihm wurden während seines Amtes immer wieder Korruption und Unregelmäßigkeiten bei öffentlichen Ausschreibungen sowie Begünstigungen für die Presse im Austausch gegen positive Berichterstattung vorgeworfen. Allerdings wurden die Vorwürfe nie vom brasilianischen Parlament untersucht. 2009 deckte die brasilianische Bundespolizei auf, dass er Zeitungen und Fernsehsender missbraucht hatte, um einen politischen Rivalen anzugreifen.

In dem Gespräch versicherte Sarney seine Unterstützung, dass Machados Fall nicht an den Bundesrichter übertragen wird, und deutete dabei an, dass dies „ohne die Einsetzung eines Anwalts“, also unter der Hand geschehe.

Derzeit jagt in der brasilianischen Presse eine Schlagzeile die nächste über die heimlichen Mitschnitte des Sérgio Machados, welche die Interimsregierung Michel Temers sowie die offizielle Begründung für das Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma Rousseff vollkommen unglaubwürdig machen. Doch während sich die Nachrichten überschlagen, demontiert die Regierung gerade den Sozialstaat. Vorgesehen sind drastische Kürzungen bis zu 50 Prozent bei Sozialleistung sowie beim öffentlichen Bildungs- und Gesundheitssystem.

Es sieht so aus, als ob Brasiliens Demokratie gerade an einem seidenen Faden hängt. Dieser seidene Faden heißt Oberster Gerichtshof, der sich offenbar in vielen Fragen selbst nicht einig ist. Man kann nur hoffen, dass die moralisch Motivierten einen längeren Atem haben als die Geschmierten.

Weiter unten finden sich einige Links zu deutschen Nachrichten zur aktuellen Entwicklung in Brasilien. Ich verstehe allerdings nicht, warum deutsche Mainstream-Medien die suspendierte Präsidentin Dilma Rousseff immer wieder in Verbindung mit dem Korruptionsskandal bringen, obwohl gegen sie keine konkreten Verdachtsmomente vorliegen. Im Gegenteil, die Regierung von Dilma Rousseff hat der Staatsanwaltschaft den Rücken gestärkt und zugelassen, dass selbst Politiker der PT und engste Vertraute angeklagt und verurteilt wurden. Wird hier einfach kritiklos von der tendenziösen Rede Globo-Presse in Brasilien abgeschrieben?

Im Übrigen schweigt Spiegel Online, eine Zeitung, die sich nicht scheut, kurzfristig schlecht recherchierte Meldungen gegen Dilma Rousseff zu veröffentlichen, beharrlich zu den seit Montag galoppierenden Ereignissen in Brasilien. Worauf wartet diese Zeitung? Oder passen die Enthüllungen nicht zu dem Bild, das diese einflussreiche Gazette von der Politik in Brasilien zeichnen will?

Die Regierung in Brasilien ist gestürzt

Gestern hat der Senat die Fortführung des Amtsenthebungsverfahrens erwartungsgemäß bestätigt. Damit ist die Präsidentin sowie die aktuelle Regierung vorübergehend für maximal 180 Tage abgesetzt, bis Senat und Oberster Gerichtshof über die endgültige Enthebung entscheiden. Interimspräsident ist ab heute der Vizepräsident Michel Temer. Er hat bereits sein Kabinett aufgestellt, in dem Politiker sitzen, die unter Korruptionsverdacht stehen oder bereits während der Militärdiktatur an der Regierung beteiligt waren. Die Rückwärtsgewandtheit der neuen Regierung kann man auch daran erkennen, dass nicht eine einzige Frau in ihr vertreten ist.

Mein Nachbar und Freund Flavio, mit dem ich zweimal die Woche spazieren gehe, sagte heute, er hätte Dilma Rousseff nicht gewählt, schäme sich aber für die undemokratischen Vorgänge in seinem Land. Das hat mich sehr an den 13. März erinnert, als die AfD in Deutschland in drei Landtage eingezogen ist und ich mich auch für mein Land geschämt habe.

Unabhängigkeitstag

Am 07. September 1822 erklärte Pedro I., Sohn des portugiesischen Königs João VI., die Unabhängigkeit Brasiliens von Portugal. Das Land feiert dieses Ereignis mit einer alljährlichen Parade seiner Streit- und Zivilkräfte. Soldaten, Feuerwehrleute, Polizisten und Sondereinsatzkräfte marschieren im Gleichschritt über einen abgesperrten Teil des Plano Piloto. Allen voran fährt der Präsident bzw. die Präsidentin in einem offenen Rolls Royce. Die aktuelle Präsidentin Dilma Rousseff hat dieses Jahr jedoch wegen ihrer miesen Zustimmungswerte in der Bevölkerung von 8 Prozent gekniffen und ist vorzeitig aus dem Wagen ausgestiegen. Zu sehen war nur der Wagen mit dem Fahrer, während die Zuschauer bei jeder namentlichen Erwähnung ihres Staatsoberhauptes, das sie noch vor knapp einem Jahr wiedergewählt haben, mit lautstarken Buhrufen reagierten.

Als Fremder in einer anderen Kultur sieht man die Zusammenhänge einer Gesellschaft vielleicht deutlicher, als wenn man in ihr aufgewachsen ist. Dilma Rousseff wurde von ihrem Volk zum Sündenbock für die aktuelle wirtschaftliche Krise und für einen Korruptionsskandal erklärt, an dem sie persönlich nicht beteiligt ist und der alle politischen Parteien des Landes betrifft. Die Ursache der Krise ist primär auf den schlechten Absatz von Eisenerz und Öl zurückzuführen. Der größte Abnehmer des Eisenerz ist China, das sich selber gerade in einer Krise befindet. Der niedrige Ölpreis trifft Brasilien, da es seit 2006 Exporteur von Rohöl ist. Zudem ist die wirtschaftliche Krise Nordamerikas und Europas überwunden, so dass Investitionskapital wieder vermehrt dorthin anstatt in Schwellenländer fließt. Die sekundäre Ursache liegt in der mangelnden Industrialisierung und im schlechten öffentlichen Bildungssystem des Landes gepaart mit korrupten politischen Strukturen begründet. Dass ausgerechnet Dilma Rousseff die Korruption in dem Land bekämpft, hilft ihr herzlich wenig, wenn sie die konservativ geprägte Medienlandschaft – allen voran das Unternehmen Rede Globo – gegen sich hat. Als Außenstehender erschaudert es mich, wenn diejenigen Menschen, die von einer linksgerichteten Politik, die Mindestlöhne und kostenlose medizinische Versorgung einführt, profitieren, dermaßen von rechtsgerichteten Medien beeinflusst werden, dass sie sich gegen diese Politik stellen. Hier in Brasilien wird mir dieser Effekt durch meine Perspektive noch bewusster als daheim in Deutschland, wo ähnliche Strukturen walten.

Die Parade selbst hatte zum Teil realsatirische Züge, da sie an manchen Stellen eher an einen Karnevalszug erinnerte. Tanzende Funkenmariechen, Motorradartisten, marschierende Politessen in Stöckelschuhen, Waffen und Fahrzeuge aus dem ersten Weltkrieg, an dem sich Brasilien nicht beteiligt hatte, sowie aus dem zweiten Weltkrieg, in dem 500 Brasilianer gefallen sind: Das alles konnte man nur schwer ernst nehmen. Doch der frenetische Jubel für Soldaten und Polizisten hinterlässt bei mir auch einen faden Nachgeschmack, insbesondere wenn aktuell in Brasilien wieder Stimmen laut werden, die ein Eingreifen des Militärs in die Politik fordern. 1964 putschte das brasilianische Militär mit Unterstützung der CIA gegen den linksgerichteten Präsidenten João Goulart und blieb bis 1985 an der Macht.

Es stimmt mich traurig, wenn in einem Land, in dem die Unterschiede zwischen Arm und Reich noch viel extremer sind als in Deutschland, das in dieser Beziehung bereits an der Spitze Europas steht, jegliche Bestrebungen für einen Ausgleich in der Gesellschaft von den rechtskonservativen Medien regelrecht bekämpft werden und der Politik ein Eingreifen durch das Militär droht. Was Brasilien benötigt, ist sozialer Ausgleich sowie Bildung und gleiche Chancen für alle. Gewalt sollte das letzte Mittel sein, um eine staatliche Ordnung aufrecht zu erhalten. Denn mündige Bürger erhält man nicht, in dem man ihnen Gleichschritt beibringt.

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