Parque Estadual do Jalapão

Auf dem Rückweg vom Indianerreservat nehmen Sylvia und ich sowie unsere Gäste Rike und Lauran einen kleinen Umweg über den spektakulären Parque Estadual do Jalapão, den man nur mit einem Allradfahrzeug besuchen kann. Knapp 170 Kilometer geht es auf der TO-255 von Ponte Alta do Tocantins Richtung Osten nach Mateiros über eine buckelige Erdstraße mit teils tiefen sandigen Stellen.

Es ist schon dunkel, als wir Ponte Alta do Tocantins verlassen. Das Gebiet zwischen den beiden Orten ist äußerst dünn besiedelt. Die Querrippen auf der Erdstraße rütteln den Wagen durch und lassen das Licht der Zusatzscheinwerfer vor uns tanzen. Wir sind die Einzigen auf der Straße und suchen einen Platz zum Übernachten. Am späten Morgen sind wir im Reservat aufgebrochen und haben 500 Kilometer Strecke hinter uns gebracht. In Brasilien ist ein Schnitt von über 50 km/h kaum zu schaffen, so dass wir bereits zehn Stunden im Auto sitzen.

Wir kommen an einem Haus vorbei, in dem noch Licht brennt. Sylvia und ich steigen aus und erfahren von den Bewohnern, dass sich keine drei Kilometer entfernt ein schöner Standplatz an einem Wasserfall befindet. Wir biegen an der beschriebenen Stelle von der Straße und folgen einem schmalen Sandweg weitere 1,5 Kilometer. Am Ende angekommen treffen wir auf einen deutsches Pärchen aus München mit einem Land Cruiser mit Aufstelldach – die ersten deutschen Weltreisenden, auf die wir nach zweieinhalb Jahren in Südamerika treffen! Sie sind wahrscheinlich genauso verdattert wie wir, in dieser Einöde Landsleuten zu begegnen. Wir unterhalten uns kurz mit ihnen und machen uns auch bettfertig.

Am nächsten Morgen verlassen uns Tina und Uwe aus München wieder, nicht ohne vorher Adressen und Telefonnummern ausgetauscht zu haben. Man läuft sich ja immer zweimal über den Weg. Wir hingegen bleiben noch einen Tag und basteln uns einen Schattenplatz.

Nach einem Ruhetag brechen wir wieder auf und fahren die TO-255 weiter Richtung Osten. Auch bei Tageslicht treffen wir auf keine Menschenseele.

Gegen Mittag landen wir am Chachoeira Velha am Rio Novo, wo wir auch die Nacht verbringen.

Am Folgetag brechen wir nach dem Frühstück auf, um uns wieder einige Kilometer auf der menschenleeren und teilweise nur sehr langsam zu befahrenden Landstraße fortzubewegen. Wir folgen einem Wegweiser, auf dem „Survivor Camping“ steht, und biegen auf eine Sandstraße, die nach zehn Kilometern am Rio Novo endet.

Der Campingplatz am Rio Novo wird von einem frustrierten älteren Pärchen geleitet, das es 15 Jahre zuvor hierher verschlagen hat und das sich von seinem Unterfangen einen deutlich höheren wirtschaftlichen Erfolg versprochen hat. Highlight des Platzes ist ein nur zehn Minuten Fußweg entfernter Strand am Rio Novo.

Am letzten Tag der Parkdurchquerung kommen wir an der Hauptattraktion der Gegend an: den Dünen von Jalapão. Wir schmuggeln den Hund im Auto am bewachten Eingang vorbei und brutzeln in der Spätnachmittagssonne in einer wüstenähnlichen Gegend vor uns hin.

Die Nacht verbringen wir ein paar Kilometer weiter auf einem Wanderparkplatz, von dem aus ein Pfad auf das dahinterliegende Hochplateau führt. Am nächsten Morgen steigen wir die 200 Höhenmeter auf, genießen kurz den Ausblick und machen uns dann auf den Heimweg Richtung Brasília.

Der Abschied von dieser optisch wunderschönen Gegend fällt uns erstaunlich leicht, denn was man auf den Bildern weder erkennen noch nachvollziehen kann, sind die unglaubliche Hitze und die unzähligen Mücken, die uns den ganzen Weg über malträtiert haben.

Die Krahô-Indianer: Eine Gemeinschaft an der Schnittstelle zweier extrem unterschiedlicher Kulturen

Um Aliens zu begegnen, muss man nicht von Reisen zu fernen Sternensystemen träumen. Ein Besuch in einem brasilianischen Indigenen-Reservat reicht aus, die unterschiedliche Betrachtungsweise der Umwelt und der Zeit aus der Perspektive einer vollkommen anderen Kultur zu erfahren. Das Dorf, zu dessen einwöchigem Fest wir von zwei Indigenen in dem Biokonstruktionskurs in Brasília eingeladen wurden, liegt in einem mit kleineren Flüssen und Bachläufen durchzogenen Indianerreservat zusammen mit 21 weiteren Dörfern im Norden des brasilianischen Bundesstaates Tocantins. Ausgehend von der brasilianischen Kleinstadt Itacajá verbindet eine bucklige Erdstraße die jeweils als Kreis angelegten indigenen Siedlungen mit je einem zentralen Platz für rituelle Handlungen in der Mitte. Der typische Aufbau eines Krahô-Dorfes sieht so aus. Am Morgen nach unserer Ankunft werden wir von einem Vorsänger des Festes mit einem Lied begrüßt.

Die Kultur der Krahô-Indianer, ehemalige Nomaden, die nun aufgrund der Begrenztheit des Reservats zur Sesshaftigkeit gezwungen sind, ist so verschieden von der europäisch und afrikanisch geprägten Kultur der Brasilianer, dass sie sich trotz des über hundertjährigen Kontaktes und des Lebens in einem Reservat seit fast 60 Jahren noch immer größtenteils erhalten hat. Die auffälligsten und sofort spürbaren Unterschiede bestehen in der Wahrnehmung der Natur und der Zeit. Die Krahô sind noch immer vornehmlich Jäger und Sammler und betrachten ihre natürliche Umwelt als allgegenwärtigen Versorger. Wasser und Nahrung sind jederzeit verfügbar. Hunger ist die Motivation, um sich auf die Suche nach etwas Essbarem zu machen. Aufgrund dieser Sichtweise bewahren sich die Indigenen im Erwachsenenalter etwas, das wir „kindlich“ nennen würden: das fast ausschließliche Leben im sorgenfreien Hier und Jetzt. Gedanken an die Zukunft und das Schmieden von Plänen zu Veränderung der gegenwärtigen Situation spielen im Bewusstsein der Indigenen nur eine untergeordnete Rolle. Hat man diesen zentralen und konstituierenden Unterschied einmal verstanden, kann man auch die für uns widersprüchlichen Verhaltensweisen der Indigenen im Umgang mit Errungenschaften der brasilianischen Kultur nachvollziehen. So verwundert es nicht, wenn das Dorf tagelang nicht über fließendes Wasser verfügt, weil der Sprit für die vom brasilianischen Staat installierte, dieselbetriebene Wasserpumpe am Fluss ausgegangen ist. Auslöser für das Sammeln von Geld und den Kauf von neuem Treibstoff ist nicht die Sorge um den Ausfall der Wasserversorgung in der Zukunft, sondern der Ausfall selbst.

Neben dem Transport von Wasser mittels der Pumpe und eines Rohrleitungssystems vom ca. einen Kilometer entfernt liegenden Fluss sind noch weitere brasilianische Einflüsse auf den ersten Blick sichtbar. Die Männer tragen ausschließlich Shorts, wobei der Oberkörper tagsüber frei bleibt und nur nachts gelegentlich mit einem T-Shirt bedeckt wird. Die Frauen nutzen bunte Stoffe als Kleider, die bei Mädchen und älteren Frauen jedoch nur den Unterleib bedecken. Das schamhafte Verdecken sekundärer Geschlechtsmerkmale durch Oberteile und Büstenhalter wird nur von Frauen mittleren Alters betrieben. Man trägt Havajanas – Flipflops – als Schuhwerk. Einige der Familien verfügen über Mopeds.

Der größte und allgegenwärtige Einfluss brasilianischer Kultur ist jedoch der Stromversorgung geschuldet. Mit ihr kommen Radio und Fernsehen. Smartphones mit Internetzugang sind bei der jüngeren Generation zum Alltagsgegenstand geworden. Das Dorf mit 22 Häusern, in denen jeweils zwei bis drei Familien und insgesamt circa 80 Kinder leben, verfügt über drei Fernseher, und nicht selten kann man nachts laute brasilianische Pop-Musik hören. Dies wirkt selbst auf außenstehende Beobachter aufgrund der Andersartigkeit der indigenen Kultur befremdlich. Der unschönste Nebeneffekt des Zugangs zu modernen Produktionsgütern ist der überall herumliegende Müll, Plastiktüten und andere, sich nicht natürlich abbauende Materialien. Aufgrund ihrer nomadischen Vergangenheit verfügen die Krahô dieses Dorfes, das im Vergleich zu Nachbarsiedlungen großen Wert auf den Erhalt der ursprünglichen Kultur legt, noch nicht einmal über Toiletten. Die Notdurft wird 30 bis 40 Meter entfernt vom Haus in den Büschen verrichtet. Die einstöckigen Häuser bestehen aus simplen Holzskeletten, welche das Dach aus geflochtenen Palmblättern tragen. Nur wenige Gebäude verfügen über Seitenwände aus Lehm und Holz oder Blättern. Manche Familien züchten Hühner, andere bauen ein wenig Maniok an. Tauschhandel und gegenseitiges Aushelfen ist zu vermuten.

Das Schulgebäude reiht sich zwar in den Kreis der Häuser des Dorfes ein, ist aber ein Fremdkörper, der seine Daseinsberechtigung nur aus der aufgezwungen brasilianischen Schulpflicht bezieht. Da es nicht von den Indigenen errichtet wurde, sticht auch seine Bauweise heraus. Es verfügt über dichte, aus Holzplanken bestehende Außen- und Innenwände sowie verschließbare Türen. Die Kinder der Indigenen lernen dort von brasilianischen Lehrerinnen und Lehrern Portugiesisch und Grundschulwissen. Selbst die ältesten Dorfbewohner sprechen neben ihrer indigenen Sprache gebrochen bis fließend Portugiesisch, was darauf schließen lässt, dass die schulischen Einrichtungen die langfristigste und wichtigste Schnittstelle zur brasilianischen Kultur darstellen. Für die westlichen Besucher des Indianerfestes – neben uns eine ehemalige brasilianische Bundesrichterin, ein Hobbyfotograf, der in einer IT-Firma arbeitet, eine eingewanderte italienische Ärztin aus Sardinien sowie der ehemalige Berufsschullehrer und Architekt João, der zufälligerweise Bruder unseres Nachbarn Flavio ist – ist die Schule Botschaftsgebäude und Unterkunft in einem.

In Gesprächen mit den Lehrern, Betreuern, Gästen und Einwohnern des Dorfes erfahren wir in den drei Tagen unseres Aufenthaltes mehr über die Einflüsse der brasilianischen Kultur auf die Krahô und die Probleme, die damit einhergehen. Über die staatliche Grundversorgung „Bolsa Familia“, deren Ansatz eigentlich die Vermeidung von Kinderarbeit ist, erhalten die indigenen Familien einmal pro Monat eine finanzielle Unterstützung, die hauptsächlich in den Erwerb von Grundnahrungsmitteln angelegt wird. Für die Indigenen hat diese aufwandslose Nahrungsversorgung jedoch große Nachteile. Da anstatt Honig und Früchte nun Zucker konsumiert und keine Zahnpflege betrieben wird, leiden bereits Kinder und Jugendliche unter Karies. Das Gebiss junger Frauen und Männer weist Lücken durch gezogene Zähne auf, wenn sie lächeln. Ältere Menschen ab 40 Jahren verfügen über fast gar keine Zähne mehr. Man erschrickt innerlich, wenn man erfährt, dass Indios, die man aufgrund ihres Äußeren als ungefähr gleichaltrig geschätzt hat, tatsächlich 15 Jahre jünger sind.

Das Dorf, das wir besuchen, hat sich erst vor zehn Jahren gegründet. Die Bewohner haben sich von ihrer ursprünglichen Dorfgemeinschaft getrennt, weil diese in ihren Augen zu sehr der brasilianischen Kultur verfallen war und mit Alkoholproblemen zu kämpfen hatte. Ähnlich wie die Ostasiaten verfügen die Indigenen Amerikas nicht über die entsprechenden Enzyme, um dieses Gift abzubauen, und werden schon von geringen Mengen betrunken wie süchtig. Als Ersatzdroge dient den Bewohnern unseres Dorfes Marihuana, welches regelmäßig, insbesondere von den Erwachsenen, konsumiert wird.

Während der zwei Tage des einwöchigen Festes, an denen wir anwesend sind, können wir verschiedene Rituale und Festaktivitäten beobachten. Jede Nacht ab ein Uhr beginnen auf dem zentralen Platz in der Mitte des Dorfes Gesänge von Frauen- oder Männergruppen, die ohne Unterbrechung bis zum Anbruch des Tages fortgeführt werden. Ein Vorsänger mit einer einfachen Rassel gibt den eintönigen Takt und die Melodie vor. Gesungen werden hauptsächlich Laute, die man aus Cowboy- und Indianerfilmen aus den 60ern kennt. In dieser Hinsicht ist die Fiktion nicht weit entfernt von der Realität. Das Ziel dieser Übung ist natürlich die Erreichung eines gemeinsamen Trance-Zustands.

Ein weiterer Teil der Festivität ist das Baumstamm-Wettschleppen. Schwere Bambus-Baumstümpfe werden von mehreren Männer- und Frauengruppen von einem acht Kilometer entferntem Ort möglichst schnell ins Dorf gebracht. Die einzelnen Gruppenmitglieder wechseln sich beim Tragen ab. Wie sehr es dabei nicht ums Gewinnen und um Fairness geht, zeigt das Beispiel einer Gruppe, die den Start verpasst hat und mit Motorrädern zur führenden Mannschaft aufschließt. Wenn die erste Männergruppe im Dorf ankommt, muss sie solange mit dem Baumstumpf im Kreis um den Dorfplatz rennen, bis die Frauengruppe das Ziel auch erreicht hat. Der Hintergrund dieses Wettbewerbs erscheint aufgrund der nomadischen Vergangenheit des Volkes eindeutig. Man will sich fit halten für das beständige Umziehen der Gemeinschaft.

Am letzten Tag des Festes steht ein Initiationsritual an. Zwei Jungen werden geschmückt und offiziell in die Männergemeinschaft des Dorfes aufgenommen.

Die Hierarchiestruktur der Indigenen-Gemeinschaft ist für uns nicht vollkommen durchschaubar. Es gibt jeweils einen Oberhäuptling sowie Unterhäuptlinge auf beiden Seiten der Geschlechter. Allerdings wird uns nicht klar, ob die Hierarchiestufen an das Alter, die Familienabstammung oder eine Wahl gebunden ist. Eindeutig ist jedoch, dass die Häuptlinge sowie die Älteren des Dorfes die Traditionen der Indigenen fortführen wollen, während viele Jüngere sich nur mäßig an den Ritualen des Festes beteiligen. Entfernt erinnert die Situation an ein oberbayrisches Dorf, dessen Ältesten sich darüber beklagen, dass die Jugend sich für die Kultur aus Radio und Fernsehen interessiert, die Traditionen nicht mehr pflegt und in die Städte abwandert.

Aus Neugierde frage ich einen 15-jährigen Indio-Jungen, dessen portugiesischer Name „Paulo Seis“ lautet, wie er sich seine Zukunft vorstellt; ob er im Dorf bleiben oder in die Stadt will.

Etwas zögernd antwortet er, er wolle bleiben. Ich entgegne, dass ich ihn verstehen kann und auch so leben will wie die Krahô. Völlig baff fragt er mich, warum. Spontan und ehrlich antworte ich: „Wir Weißen mögen Flugzeuge und Autos besitzen, um zu reisen und die Welt kennenzulernen. Doch dafür müssen wir arbeiten. Viele arbeiten ihr ganzes Leben und können sich noch nicht einmal Reisen leisten. An die elf Monate im Jahr müssen wir wie die Sklaven Land- oder Firmenbesitzern dienen, um einen Monat frei zu sein und das Leben zu genießen. Die Krahô hingegen genießen fast das ganze Jahr ihr Leben und kennen keinen Landbesitz. Außerdem ist es unsere Kultur, welche für die Umweltzerstörung und den Klimawandel verantwortlich ist, und nicht die der Indigenen.“

Später stelle ich mit Bedauern fest, wie ausgerechnet ältere Frauen und Männer der Dorfgemeinschaft versuchen, den wenigen weißen Gästen handgefertigten Schmuck zu verkaufen, um an Geld zu kommen. Ich ahne, dass die indigene Kultur auf Dauer von der brasilianischen aufgesogen wird. Durch das Dorf der Indigenen geht ein Riss. Er ist äußerlich sichtbar durch Kleidung, Strommasten, Wasserversorgung, Müll, Mopeds und Smartphones. Doch auch in den Köpfen der Bewohner ist er spürbar. Durch den hohen Stellenwert technischer Geräte und billiger Grundnahrungsmittel hat Geld die gleiche Bedeutung bekommen wie die Jagd oder der Anbau von Maniok. Das ist insofern bedauerlich, da unsere Kultur nicht das Glück und die Sicherung der Existenz der einzelnen Mitglieder der Gesellschaft zum Ziel hat, sondern die Maximierung des Gewinns einiger Weniger durch Ausbeutung von Menschen und Bodenschätzen sowie die Umdeutung der Menschen zu individuellen Konsumenten, die unnötige Dinge kaufen, um die Leere zu füllen, welche eine größtenteils sinnentleerte Arbeit in ihnen hinterlässt.

Häuser bauen mit Matsch und Zement

Der Traum von den eigenen vier Wänden – wer hat ihn nicht? Doch das Ganze mit dem Material, das man auf dem Grundstück vorfinden, und auch noch mit bloßen Händen? Zumindest in Brasilien geht das, wo Bauvorschriften minimal bis gar nicht vorhanden sind.

Um zu lernen, wie man nachhaltig baut, haben wir einen viertägigen Kurs in Biokonstruktion des Institutes für Permakultur belegt. Der Begriff Permakultur kommt eigentlich aus der Landwirtschaft und beschreibt landwirtschaftlich produktive Ökosysteme, welche die Diversität, Stabilität und Widerstandsfähigkeit von natürlichen Ökosystemen besitzen. Mit dem Ziel, selbstregulierende, permanente Systeme zu schaffen, die höchstens minimaler Eingriffe bedürfen, setzt die Permakultur einen Gegenpol zur industrialisierten Landwirtschaft. Im erweiterten Sinne bezieht sie auch das Zusammenleben von Menschen sowie die Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung ein.

In dem Kurs haben wir gelernt, wie man Wände aus Erde, Lehm und Stroh errichtet, wie man Superadobes (mit Erde verfüllte Säcke) verwendet, um Fundamente und Wände zu bauen, wie man Stahlbetondächer mit der Hand fertigt und wie man Sickergruben für Abwasser und Fäkalien konstruiert. An dem Kurs teilgenommen haben auch zwei Indigene aus dem Bundesstaat Tocatins. Das Verrückte in Brasilien ist, dass hier Indigene exotischer sind als Deutsche. Im Gegensatz zu den Andenländern, in denen im Hochland Menschen mit indigener Abstammung in der Überzahl sind, leben sie in Brasilien fast ausschließlich in Reservaten und sind daher im normalen Straßenbild nicht vorhanden. Für mich war es die erste Begegnung mit Indigenen in Brasilien, jedoch nicht die letzte. Wir wurden für August zu einem einwöchigen Fest des Indigenendorfes in Tocatins eingeladen, das etwas 1.200 Kilometer von Brasília entfernt liegt. Die nächste Reise steht also fest.

Rundreise durch die Chapada dos Veiadeiros und Terra Ronca

Nach den Reisen in den Nordosten Brasiliens, nach Bolivien und ins Pantanal in 2015 und 2016, die eher Rallyes durch Südamerika glichen, haben Sylvia und ich die Vorzüge von Reisen mit kurzen Entfernungen in vergleichsweise vielen Tagen entdeckt. Brasilien und Südamerika sind einfach so unglaublich groß, dass man leicht die Größenverhältnisse unterschätzt.

Unter anderem besuchten wir den wohl schönsten Wasserfall der Chapada dos Veiadeiros, welche sich ca. 300 km nördlich von Brasília befindet. Der Chachoeira Santa Barbara liegt in einem Schutzgebiet, das man nur mit Führer betreten darf. Die Fotos, die wir gemacht haben, spiegeln in keiner Weise die Schönheit der Gegend wieder.

Danach fuhren wir in das Schutzgebiet Terra Ronca, welches sich in der Nähe der Grenze zwischen Goiás und Bahia befindet und mit riesigen Felshöhlen aufwartet. Unterwegs und im Schutzgebiet ging es über viele Erdstraßen, welche den Einsatz unseres Offroad-Fahrzeugs zumindest ein wenig rechtfertigten.

Am Ende kamen wir zu dem Schluss, dass es zuhause in Brasília noch immer am schönsten ist. Die Hitze, die vielen Insekten und die drückende Feuchtigkeit machen den Cerrado nicht unbedingt zum primären Ziel von Campern wie wir.

Abschlussprüfung

Am letzten Tag wurden wir von Vermelhinho zurück nach Novo Airão gebracht, von wo aus wir mit dem Taxi in zwei Stunden nach Manaus fuhren. Abends aßen wir schlechte Pizza auf dem zentralen Platz vor dem berühmten Teatro Amazonas, das wir am nächsten Tag ausgiebig fotografierten, bevor wir ins Flugzeug nach Brasília stiegen.

Bei Vermelhinho zuhaus

Am Morgen des vorletzten Tages unseres Dschungelaufenthalts traten wir den Rückweg in Richtung Zivilisation an. Vorbei ging es an uns mittlerweile bekannten Landschaften, die zur Feier des Tages auch mit dem ein oder anderen fotogenen Tier aufwarteten.

Am Ausgang des Nationalparkes Jaú kamen wir bei den Parkhütern vorbei. Peter schaffte es, einen von ihnen beim Mittagsschlaf abzulichten.

Kurz vor der Abenddämmerung erreichten wir Vermelhinhos Haus, das in der Niedrigwasserzeit ein paar Hundert Meter vom Ufer entfernt mitten im Wald lag. Im Gegensatz zu den beiden Brüdern im Nationalpark, deren Aufenthalt nur toleriert ist, hat Vermelhinho sein Grundstück über das brasilienweite Programm Terra Legal erhalten. Er musste nichts dafür bezahlen, muss es aber bewirtschaften und darf es nicht weiterverkaufen, nur vererben. Damit stellt der Staat sicher, dass mit dem Boden nicht spekuliert wird und die Menschen sich nicht illegal Ländereien aneignen. Da er im Gegensatz zu den tolerierten Caboclos im Nationalpark auf seinem Grundstück bauen und anbauen darf, wie er will, war es auch ein wenig fortschrittlicher ausgestattet. Sogar die elektrische Versorgung steht kurz bevor.

Boa noite e durma bem.

Foto-Safari II

Ein typischer Alltag während der Dschungelprüfung: Aufstehen, Frühstück (Früchte, Brot und Fisch), Fertigmachen zur Abfahrt. Mit dem Kleinboot inklusive Moped-Außenborder über Stromschnellen einen kleinen Nebenfluss hinauf. Waldwanderung mit Adlersichtung.

caboclo-bruder-nazare

Unser Führer an diesem Tag war Nazaré, einer der Caboclo-Brüder. Er führte uns über einen ehemaligen Waldarbeiterpfad. Ehemalig, da das Gebiet heute zum Nationalpark Jaú gehört. Nazaré und sein Bruder Ari leben noch in dem Park, was keine Selbstverständlichkeit ist. Ihre Anwesenheit wird toleriert, sie müssen sich jedoch strengen Auflagen unterwerfen.

Unter anderem führte er uns an eine Stelle, wo früher Kautschuk gewonnen wurde.

Die Rinde des Kautschukbaums wird in der Früh an einer Stelle leicht verletzt und das Kautschuk über den Tag mit einem Eimer aufgefangen. Am Ende des Tages kann man es dann ernten.

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Mitten im Wald, ca. 130 km bzw. eine Tagesreise von dem nächsten Ort, Novo Airão, entfernt stießen wir auf dieses Grab. Beerdigt liegt hier ein Waldarbeiter, der es auf Grund einer Verletzung oder einer Krankheit nicht geschafft hat, einen Arzt zu erreichen.

Die Wanderung dauerte den Vormittag. Mittags ging es zurück zum Haus von Ari und Nazaré, wo wir übernachtet hatten. Nach dem Mittagessen (Fisch, Reis und Bohnen) ging es erneut los mit Vermelhinhos Schnellboot, diesmal, um auf den den Nebenarmen des Rio Jaú nach Tieren Ausschau zu halten.

Wo sind die Tiere, fragt man sich natürlich. Wie bereits erwähnt, machen sie sich am Amazonas und Rio Negro sehr rar. In der Dunkelheit haben wir dann doch einige Kaimane aufstöbern können. Zum Fotografieren war es dann jedoch schon zu dunkel. Doch die bizarre, von dem großen Unterschied der Wasserstände geformte Landschaft und Vegetation hatte auch seinen eigenen, morbiden Reiz.

Im Dunkeln ging es dann zurück zum Abendessen (Fisch, Reis und Bohnen).

Bis morgen.

Foto-Safari I

Wie steht es so schön in Sylvias Reiseführer? Das Pantanal ist so, wie man sich den Amazonas vorstellt. Während man im Pantanal an jeder Ecke über Alligatoren und Riesenmeerschweinchen stolpert sowie riesige Fischreiher regelmäßig durch das Bild fliegen, macht sich die Tierwelt am Amazonas recht rar. Ich bin ja eh der Meinung, dass man in den Dokumentationen von David Attenborough die Tiere viel besser beobachten kann, als in einer direkten Begegnung, die häufig eher zufällig und kurz verläuft.

Trotzdem ist der Amazonas-Regenwald sehr beeindruckend. Da ist zunächst einmal seine schiere Größe: Der Regenwald liegt zu 60 Prozent auf dem Gebiet Brasiliens und umfasst die Hälfte des brasilianischen Territoriums. Er macht die Hälfte des auf der Erde verbliebenen Tropenwaldes aus. Die Fläche des Amazonasbeckens beträgt knapp 7 Millionen Quadratkilometer, stellt damit knapp 39 Prozent der Fläche Südamerikas und ist fast 20 mal größer als Deutschland. Läge das Gebiet in Europa, nähme es 70 Prozent der gesamten Fläche des Kontinents ein. Da kann man sich schnell verlaufen.

Hauptverkehrswege sind die Flüsse. Das versteht man erst, wenn man die immense Differenz zwischen Hoch- und Niedrigwasser bewusst wahrgenommen hat, die am Rio Negro bis zu 19 Meter beträgt. Zwar gibt es in Amazonien keine richtige Trockenzeit – sonst hieße das Gebiet ja auch nicht Regenwald, doch es gibt Zeiten mit mehr und weniger regelmäßigen Regen. Auf unseren Fotos kann man immer wieder gut erkennen, dass die Häuser der Flussbewohner auf Anhöhen liegen. Das liegt daran, dass wir bei Niedrigwasser dort waren. Während des Hochwassers liegen sie direkt am Ufer. Das bedeutet, dass fast die gesamte Landschaft, die man auf den folgenden Bildern sehen kann, in den Zeiten hohen Wasserstandes verschwunden ist.

Eine unserer Haltestellen war ein verlassenes Dorf, Velho Airão, von dem es heißt, dass die Ameisen die Einwohner gefressen hätten.

Fortsetzung folgt…

Leben wie ein Caboclo

Caboclos – so nennen sich die Mischlinge aus Indigenen und Europäern, welche die Ufer des Amazonas und seiner Nebenflüsse bewohnen. Zusammen mit den anderen, nicht-indigenen Flussbewohnern bilden sie die Bevölkerungsgruppe der Ribeirinhos (Uferbewohner).

Unsere Prüfung beinhaltete, dass wir mit einem dieser Caboclos und seinem Boot vier Tage den Rio Negro und seine Nebenarme befahren und gemeinsam mit ihm und anderen Uferbewohnern leben sollten. Vier Tage, das klingt kurz. Vier Tage können aber auch sehr lang sein, wenn man fehlende sanitäre Einrichtungen, Insektenbisse sowie die unglaubliche Hitze und die hohe Luftfeuchtigkeit am Amazonas, welche dafür sorgen, dass man selbst nachts in seinem eigenen Schweiß badet, berücksichtigt.

Die erste Sonderprüfung bestand aus einer nächtlichen, 10-stündigen Bootsfahrt vom Porto Sao Raimundo in Manaus nach Novo Airao, wo wir unseren Reiseführer treffen sollten. Wir hätten natürlich auch die Straße mit einem kaum teureren Taxi oder einem gleich teuren Bus nehmen können, welche für die Strecke gerade einmal zwei Stunden benötigen. Doch das wäre unsportlich gewesen.

Die Ribeirinhos ziehen das Schiff dem Bus vor, weil sie zum einen den Straßen misstrauen und zum anderen die Nacht auf dem Schiff schlafen und tagsüber ihre Geschäfte in Manaus erledigen können. Für uns Touristen, die eher klimaanlagengekühlte Hotelzimmer gewohnt sind, verlief die Nacht in der Hängematte eher unkomfortabel und schlaflos.

Ziemlich gerädert kamen wir am Morgen in Novo Airao an und trafen dort unseren Reiseführer Vermelhinho („Vermelhinho“ ist die Verkleinerungsform von „Vermelho“ – „Rot“ und bedeutet daher so viel wie „Rötchen“).

vermelhinho

Dieser hatte sich einen Monat zuvor mit der Kettensäge ins Knie gesägt und dabei sein Kreuzband durchtrennt sowie Teile der Kniescheibe weggefräst. Doch Indianer kennen keinen Schmerz und deren Abkömmlinge sowieso nicht. Daher humpelte er selbst mit Gepäck und auf Flip-Flops ziemlich tapfer durch die Gegend und war dabei nicht selten schneller als unserer Touristengruppe.

Mit seinem Schnellboot, das an die 40 km/h schnell war, brausten wir dann in einer Tagesreise den Rio Negro, den Rio Jaú und den Rio Carabinani hinauf, um unsere Hängematten bei zwei Caboclo-Brüdern im Urwald an die Bäume zu knüpfen.

Caboclos leben spartanisch, sehr spartanisch. Geschlafen wird in Hängematten, das Geschäft wird im Wald erledigt und morgens, mittags und abends gibt es Fisch zum Essen.

In den Folgetagen waren verschiedene Foto-Safaris mit dem Boot und zu Fuß geplant. Doch das ist eine andere Geschichte.

Fortsetzung folgt…

Mit Ronald Barnabas Schill in der Favela über der Copacabana

Der Mann ist deutschlandweit bekannt geworden als Richter Gnadenlos, Gründer der Partei Rechtstaatlicher Offensive sowie Zweiter Bürgermeister und Innensenator der Stadt Hamburg. Letzteres in einer unsäglichen Koalition mit der CDU und der FDP, die sich beide nicht gescheut haben, mit einer rechten Partei eine Regierung zu bilden, nur um an der Macht zu bleiben. Dann kam der Absturz: Hitler-Herpes, Kokain, Big Brother. Seit 2006 lebt er von seiner Pension als Richter in einer Favela in Rio de Janeiro.

Ich gebe zu, dass ich all dies hauptsächlich erwähne, weil ich in einem Interview aufgeschnappt habe, dass ein reißerischer Titel im Internet darüber entscheidet, wie häufig ein Artikel angeklickt wird. Mit Ronald Schill, den ich persönlich für eine Hanswurst halte, hat der nachfolgende Bericht nur gemeinsam, dass wir für zwei Tage auch in einer Favela oberhalb der Copacabana gewohnt haben, allerdings ca. 3,5 Kilometer Luftlinie entfernt von der Favela, in der Schill residiert.

Favela, das klingt für die meisten erst einmal nach Armut, Drogen und Bandenkriegen. Favelas sind illegal errichtete Stadtviertel, die jedoch zum Teil über eine Infrastruktur wie Wasser- und Abwasseranschlüsse, Strom, Telefon/Internet und Straßen verfügen. Offiziell heißt es, dass die Städteplanung Brasiliens nicht mit dem Wachstum ihrer Städte mithalten konnte. Angesichts der krassen Reichtumsunterschiede in diesem Land kann man das natürlich auch anders sehen: Der reichen Oberschicht ist das Schicksal ihrer minderbemittelten Mitmenschen schlichtweg egal.

Die Favela Babilônia, in der wir untergekommen sind, ist in den steilen Hang hineingebaut. Eine einspurige Straße führt ungefähr bis auf die Hälfte der Höhe. Will man höher hinaus, muss man zu Fuß über schmale Wege und Treppen weitersteigen. Unsere Favela ist eine der ältesten Rios und mittlerweile „befriedet“. Ich habe das Wort in Anführungszeichen gesetzt, weil die Bewohner eine andere Sichtweise auf die Polizeipräsenz haben. Erstens sprechen sie nicht von einer Favela, sondern von einer Comunidade, da sie sich eigene Regeln gegeben haben wie zum Beispiel, dass jemand die Gemeinschaft verlassen muss, wenn er beim Klauen erwischt wird. Zweitens nehmen sie die Anwesenheit der bis unter die Zähne bewaffneten Polizisten als „Militarisierung“ wahr. Zudem wird den Staatsdienern vorgeworfen, korrupt zu sein und Schutzgelder zu erpressen.

Wir waren zu kurz dort, um die Vorwürfe bestätigen zu können. Die Polizisten haben wir eher als freundlich gegenüber uns in Erinnerung behalten, aber wir waren auch deutlich als Touristen erkennbar. Der eigentliche Eindruck war jedoch, dass wir uns sehr sicher fühlten und dass die Comunidade über interessante Bars und Restaurants verfügte, in denen man schnell in den Kontakt mit anderen Menschen kommen konnte. Und der 200 Meter entfernte Strand ist natürlich nicht umsonst weltberühmt.