Bruna – ein Gastbeitrag von Sylvia

“A Senhora vai pagar isto para mim?” – Ich stehe im Carrefour vor der Kasse, sortiere mich selbst und will mich gerade mit einem prall gefüllten Einkaufswagen an einer vielversprechend kurzen Warteschlange anstellen. Es ist einer dieser riesigen Carrefours, die es scheinbar auf dem halben Erdball gibt und den wohl die meisten von uns in einem Frankreichurlaub irgendwann einmal kennengelernt haben. Die Regale sind schier endlos lang und hoch und es gibt so ziemlich alles, was man für den Alltag braucht oder auch nicht braucht. “A Senhora vai pagar isto para mim?” – Ich stehe auf der Leitung und erblicke mit einem vermutlich selten dämlichen Gesichtsausdruck ein sehr hübsches Mädchen mit langen schwarzen, zu einem Pferdeschwanz gebundenen Haaren, das mich mit großen dunkelbraunen Augen gleichzeitig schüchtern und erwartungsvoll anschaut. Doch da ist noch mehr. Da ist Scheu und Scham. Da ist Traurigkeit und Hoffnung. Da ist Verantwortung und Last. Und irgendwo hinter all dem ist da noch das Kind, das es sicher schon lang nicht mehr sein durfte. Jetzt erst dringen Sinn und Absicht ihrer Worte zu mir durch „Wird die Senhora das hier für mich bezahlen?“ In ihren Armen stapelt sie drei Teile, die sie einkaufen möchte und die sie offensichtlich nicht bezahlen kann: eine weiße Styroporschale mit Bratwürsten in Zellophan verpackt, ein paar sehr einfache blaue Havaianas (Flip-Flops – die billigsten) und ein tiefgefrorenes Hähnchen. Letzteres sieht gedrückt an ihrem kleinen Körper riesig aus. Sie regt sich nicht vom Fleck, atmet kaum. In Sekundenbruchteilen geht mir wieder einmal alles durch den Kopf was ich über bettelnde Kinder gelernt habe. Man darf ihnen nichts geben, weil sie das dann als Bestätigung sehen, … weil ihre Eltern sie dann weiter zum erbetteln des Lebensunterhaltes missbrauchen, … weil sie dann der Schule noch weniger Aufmerksamkeit schenken und sie ihr noch so junges Leben verwirken, … weil …. „In Ordnung, leg deine Sachen hier zu meinen aufs Band.“ Ihr „Danke“ ist leise, ihr Blick wandert zum Boden. Ich spüre, wie sehr sie sich wegwünscht aus dieser Situation, wie groß ihre Scham ist. Ich fühle mich hilflos und denke: Wenn ich ihr schon nicht wirklich helfen kann, dann will ich sie wenigstens aus dieser unwürdigen Situation befreien. Richtig oder falsch? Wer sind wir, das beurteilen zu können?

Sie heißt Bruna und ist zwölf Jahre alt. Sie hat sechs Geschwister. Der älteste Bruder ist 22, der jüngste ist 6 Jahre alt. Sie fragt höflich, ob sie mir helfen kann, meine Sachen aufs Band zu legen. Ich bejahe und sie ist erleichtert, etwas zurückgeben zu können. Als der Einkaufswagen geleert ist, hilft sie auf der anderen Seite der Kasse Karsten, die Waren in die große Einkaufskiste zu verstauen. Ein kleiner hübscher Junge, ihr sechsjähriger Bruder, gesellt sich zu ihr. Er hat dieselben großen dunklen traurigen Augen und kurze schwarze krause Haare. Auch er hat eine spärlich gefüllte Carrefour-Einkaufstüte in der Hand. Offensichtlich haben sich die Geschwister aus strategischen Gründen vor der Kasse getrennt. Ihr Einkaufsgut fischt sie aus unseren vielen Sachen heraus und steckt sie in eine Einkaufstüte. Ungeschickt lege ich noch zwei KitKat drauf, die ich gerade noch aus einem Pappkarton neben der Kasse angeln kann. Ich bin froh, dass sie sich nach einem weiteren schüchternen „Danke“ dann schnell verabschiedet und nicht mehr sieht, wie ich die 1.000 Reais (rund 250 Euro) für unseren Mega-Einkauf auf die Theke blättere. Irgendwie schäme ich mich plötzlich für meinen „Reichtum“.

Kaum haben wir den Laden verlassen, kann ich meine Tränen nicht mehr zügeln. Was mich so berührt, ist nicht einmal das Betteln an sich. Was mich so trifft ist viel mehr die Scham der Kleinen, die Pein. Sie wollte nicht betteln, das sah man sehr deutlich. Sie hatte aber offensichtlich keine Wahl. Vielleicht wurde sie geschickt von den Eltern, vielleicht wurde sie von ihnen allein gelassen. Wer weiß das schon. Die Metafrage für mich ist vielmehr, warum war ausgerechnet sie in einer solchen Situation? Was kann sie dafür, dass sie in einem sozialen Brennpunkt der Vorstädte Brasilias und nicht ein paar Kilometer weiter in einer der reichen Familien am Lago Sul geboren wurde?

In diesem Moment wurde sie für mich zur Stellvertreterin für die vielen Menschen hier, die mit ganz wenig auskommen müssen oder gar in Armut leben – in Kirschkernweitspuckdistanz zu der reichen Oberschicht und zum Teil auch sehr eng mit ihr verwoben. Die soziale Ungleichheit trifft hier mit voller Wucht aufeinander. Wenn ich morgens mit dem Auto aus unserem Condomínio zur Arbeit fahre, wie viele meiner Nachbarn, kommen mir zu Fuß die Reinigungshilfen und Gärtner entgegen, Tagesangestellte die jegliches Einkommen verlieren, sobald sie krank werden. An den Ampeln verkaufen junge Männer Putztücher, Mülltüten, Kaugummis oder Wasserflaschen, um sich von dem bisschen Gewinn zu ernähren. Auf den Parkplätzen arbeiten sie als „Einweiser“ und waschen für ein paar Reais die Autos der „Reichen“. Auf den breiten Grünstreifen der Autostadt Brasilia, an denen tagtäglich tausende Neuwagen und manchmal echte Luxuskarren langbrettern, leben Familien mit kleinen Kindern in Plastikplanen-Barracken. Die Kleinen und Kleinsten spielen am Lagerfeuer, keine 10 Meter entfernt von der 6 Spurigen Fahrbahn, das ist ihr Zuhause.

Warum ausgerechnet sie? Warum nicht ich oder du, die wir doch nur genauso zufällig in einem der reichsten Länder dieser Erde geboren wurden. In einem Land, das – verglichen mit dem Rest der Welt – dem Ideal der sozialen Gerechtigkeit schon ziemlich nah kommt. In dem seit 70 Jahren kein Krieg mehr ausgetragen wurde. Mit einem Bildungssystem, das auch Kindern aus Arbeiterfamilien wie mir und vielen anderen einen Hochschulabschluss und ein Leben in Wohlstand ermöglicht.

2013 lebten in Brasilien 52 Millionen Menschen ohne Ernährungssicherheit. Das entspricht zwei Drittel der Deutschen Bevölkerung. Von ihnen wissen 34,5 Millionen Menschen heute nicht, ob sie sich und ihre Familien morgen, übermorgen oder nächste Woche noch ausreichend ernähren können. Die anderen 17,5 Millionen Brasilianerinnen und Brasilianer – inklusive Kinder – verfügen de facto nicht über ausreichende Nahrung oder leiden unter chronischem Hunger (Quelle: PNAD 2013). So viele Menschen leben in Nordrhein-Westfalen.

Nun werden wir das Problem hier und heute nicht lösen können, das ist richtig. Was wir aber tun können ist ein kleines bisschen von dem abgeben, was wir haben. Beträge, die uns nichtig erscheinen, können anderswo „den Unterschied“ machen. Schon 5 Euro bedeuten Impfungen, Lernmaterialien, Nahrung. Es gibt unzählige gute Hilfsorganisationen in Deutschland, die dafür sorgen, dass Geld da ankommt, wo es gebraucht wird. Das kann ein Waisenhaus in Brasilien sein oder auch der Kindergarten um die Ecke. Bei den größeren Organisationen gelingt Spenden mit wenigen Klicks in 5 Minuten, wie z.B. bei Ärtze ohne Grenzen e.V. oder ChildFund Deutschland. Kleineren Projekten, wie beispielsweise der Initiative Feuervogel in Aachen für Kinder suchtkranker Eltern, kann man mit einer Banküberweisung Spenden zukommen lassen. Es klingt so abgedroschen, aber jeder Euro zählt.

Wer sich genauer erkundigen möchte, ob sein Geld auch gut angelegt wird, der kann einen Blick auf die Seite des Deutschen Zentralinstituts für soziale Fragen werfen. Unter folgendem Link gibt es einer Liste mit zertifizierten Organisationen.

Und wer von euch an dieser Stelle einen Spenden-Tipp loswerden möchte, sei dazu herzlich eingeladen. Oder schreibt einfach, wo ihr dieses Jahr gespendet habt.

Schöne Tage und frohe Weihnachten wünscht euch

Sylvia!

Weihnachten 2015

Dramatischer Himmel

Weihnachtsgefühle kommen hier in Brasilia bei tagsüber ungefähr 30 Grad im Schatten kaum auf. Hier ist Hochsommer. In den Nächten ist es teilweise so warm, dass ich den Ventilator durchlaufen lasse.

Wenigstens hat die Regenzeit jetzt begonnen. Es regnet fast jeden Nachmittag und manchmal nachts. Die kleinen Bäche, die in der Trockenzeit vollkommen wasserlos waren, verwandeln sich nach einem Regenguss in reißende Ströme.

Nevertheless, ich wünsche allen Leserinnen und Lesern meines Blogs geruhsame Tage und einen schönen Jahresanfang.

Echter Orangensaft für 90 Cent

Vom Rohstoff zum Endprodukt in 30 Minuten. 45 Orangen ergeben 3 Liter Orangensaft und einen Eimer voll Schalen. 24 Orangen kosten umgerechnet 1,30 Euro. Macht 0,90 Euro pro Liter echten Orangensaft. Im Laden kostet frisch gepresster Orangensaft hier umgerechnet 2,20 Euro. Da lohnt sich das Selberpressen.

Neues aus der Regenzeit

Zur Aufheiterung mal wieder etwas Spektakuläres. Monsterfrösche aus dem Regenwald:

Monsterschrecken, die kleine Kinder fressen könnten:

Und dann diese brasilianische Variante des Underbergs:

Lesen bildet

Seit neuestem lese ich morgens immer eine Stunde lang brasilianische Online-Zeitschriften, um mein Portugiesisch zu verbessern. Dabei bin ich über einen Artikel mit diesem Titel in der Brasilianischen Post gestolpert:

Sesc divulga nota de esclarecimento após peça polêmica com dedos no ânus

Übersetzt lautet der Titel: „Der SESC veröffentlicht eine Klarstellung nach einem polemischen Stück mit Fingern im Anus“.

„SESC“ steht für „Serviço Social do Comércio“ und bedeutet soviel wie „Sozialdienst des Handels“, einer privaten gemeinnützigen brasilianischen Organisation, die von Handels-, Dienstleistungs- und Tourismusunternehmen finanziert wird mit dem Hauptziel, das soziale Wohlbefinden der Angestellten und deren Familien zu verbessern sowie das der allgemeinen Öffentlichkeit. Das Betätigungsfeld der SESC liegt in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Freizeit, Kultur und Soziales.

Was war geschehen? Im Rahmen einer jährlichen einwöchigen Veranstaltung namens „Mostra SESC Cariri de Culturas“ (übersetzt: Kulturelle SESC-Ausstellung der Region Cariri, oder so ähnlich) wurde ein Performance namens „Macaquinhos“ (frei übersetzt: Äffchen) basierend auf dem Buch „Das brasilianische Volk“ des Autors Darcy Ribeiro aufgeführt, in der acht nackte Männer und Frauen im Kreis laufen und sich dabei gegenseitig den Finger in den Popo stecken. Das Ganze hätte wohl kaum Aufsehen erregt, wenn nicht jemand im Publikum so geistesgegenwärtig gewesen wäre, die Szene mit seinem Smartphone zu filmen und auf Youtube zu stellen.

Vermutlich um rechtliche Schritte gegen die Veranstaltung vorzubeugen hat die Leitung der Veranstaltung nun eine Klarstellung veröffentlicht, die übersetzt wie folgt lautet:

Der SESC, eine durch die Handelsgesellschaften unterhaltene private Einrichtung, stellt hiermit öffentlich klar, dass die 17. Durchführung der „Mostra SESC Cariri de Culturas“ in 28 Gemeinden der Region Cariri den kostenlosen Zugang zu Kultur mit  unterschiedlichsten Ausstellungen fördert. Dieses Jahr hatten mehr als 200.000 Menschen Zugang zu 127 Aufführungen, welche in gänzlicher und voller Autonomie ausgesucht wurden anhand der in der Auschreibung der Kuratorengruppe festgelegten Kriterien. Dem SESC obliegt es gemäß der brasilianischen Verfassung nicht, irgendeine Art der Zensur auszuüben.

In Bezug auf die Präsentation „Äffchen“, basierend auf dem Buch „Das brasilianische Volk“ von Darcy Ribeiro, macht der SESC deutlich, dass er sich versichert hat, dass nur die interessierte Öffentlichkeit Zugang zu der betreffenden Aufführung hatte. So wurden alle Informationen im Vorfeld zur Verfügung gestellt, eine Klassifizierung auf 18 Jahre wurde festgelegt und die Zeit für die Präsentation auf 23 Uhr gelegt, Zugang nur mit Vorlage des Ausweises.

Der SESC hat weiterhin Vorsorge getroffen, keinerlei Bilder der Aufführung zu veröffentlichen in dem Sinne, dass Menschen außerhalb der festgelegten Altersgruppe einen Zugang zu den Inhalten haben sollten. Der SESC unterstützt nicht die Veröffentlichung der Aufführung und lehnt deren Verbreitung in sozialen Netzwerken ab.

Der SESC erfüllt damit seine Pflicht zur Wahrung des künstlerischen Schaffens bezüglich der Vielfältigkeit und der Formung des kritischen und autonomen Bewusstseins.

Die Leitung der Mostra SESC Cariri de Culturas

Ich dachte, nur die Deutschen könnten so herrlich gestelzt formulieren, wenn es darum geht, die Quadratur des Kreises zu erklären. Im Originaltext waren die Sätze sogar noch verschachtelter, so dass eine direkte Übersetzung kaum Sinn ergeben hätte.

Was ist die Nachricht der Klarstellung? Vordergründig: Künstlerische Freiheit ist per Gesetz unantastbar und der Veranstalter hat alles unternommen, um den Jugendschutz zu gewährleisten. Und die eigentliche Nachricht: Wir haben Angst, dass man uns anzeigt und dass uns der Geldhahn zugedreht wird.

Als ob künstlerische Freiheit tatsächlich unantastbar ist! Diejenigen, welche die Kunst finanzieren, haben immer das letzte Wort. Die öffentliche Stellungnahme der Veranstaltungsleitung ist der Beweis, dass selbst sie nicht an die künstlerische Freiheit glaubt, sonst würde sie sich nicht in dieser Form rechtfertigen. Ich bin mir sicher, dass im nächsten Jahr eine derartige Aufführung nicht stattfinden wird und wenn doch, dann werden mit Sicherheit vorher alle Kameras und Smartphones eingesammelt.

Zuhause ist es immer noch am schönsten

Nach einer Übernachtung in einem Hotel in Sucre und der Organisation eines Attests bei einem Tierarzt über die offensichtliche Gesundheit unseres Hundes für die Einreise nach Brasilien machten wir uns weiter auf den Weg in Richtung Santa Cruz de la Sierra. Sucre ist die Hauptstadt und Santa Cruz mit etwas mehr als einer Millionen Einwohnern die größte Stadt Boliviens. Die Orte sind circa 400 Kilometer voneinander entfernt, so dass man meinen könnte, es gäbe regen Austausch zwischen beiden. Doch die schottrigen Passstraßen sprechen eine andere Sprache. Die improvisierte Auspuffhalterung brauchte Zuwendung und wir zerstörten uns das Glas eines Scheinwerfers.

Auspuffhalterung verloren

Da wir aufgrund der Straßenverhältnisse bis zur Dunkelheit keine 300 Kilometer vorankamen, übernachteten wir neben der Straße in einem Kakteenfeld auf 1.400 Höhenmetern. 1.400 Höhenmeter: Das bedeutete keine geschwollenen Schleimhäute, keine Kopfschmerzen und kein Frieren beim Aufstehen.

In Santa Cruz übernachteten wir wieder in einem Hotel und brachten am Sonntagmorgen Sylvia zum Flughafen. Aus Scherz sagte ich zu Sylvia, dass wie durch ein Wunder die Straße entgegen der Informationen aus Wikipedia bis zur brasilianischen Grenze geteert sei und wir uns bereits am Montagabend wiedersehen würden.

Gegen späten Vormittag fuhren Katja und ich dann auf die Ruta 4, der südlichen Fernstraße in Richtung Brasilien. Eingereist war ich über die Ruta 10 nördlich von Santa Cruz. Auf dieser Strecke musste ich über 700 Kilometer Schotterpiste fahren. In Erwartung ähnlicher Straßenverhältnisse, waren wir völlig baff, dass die komplette Strecke bis zur Grenze so aussah:

Die offensichtliche veraltete Information aus Wikipedia bewog mich das erste Mal im Leben dazu, einen Wiki-Eintrag zu korrigieren. Allerdings müssen meine Änderungen offenbar noch „gesichtet“ werden, bevor sie allen Nutzern zur Verfügung stehen. Ich frage mich, wer das bei Wikipedia überprüfen will.

Die Grenze nach Brasilien passierten wir bereits am Sonntagabend in der Dunkelheit. Gegen den Formalitätenwahn waren wir gut gerüstet. Wir hatten zu fast allen Tankvorgängen in Bolivien die Rechnungen aufbewahrt, so dass wir nachweisen konnten, immer den dreifach höheren „internationalen“ Preis für den Diesel bezahlt zu haben. Für den Hund hatten wir das aktuelle Gesundheitsattest vom Tierarzt. Doch was war? Auf der bolivianischen Seite schaut man kurz in unser Auto und ließ uns ohne Kontrolle der Pässe passieren. Und auf der brasiliansichen Seite? Nada. Kein einziger Offizieller weit und breit. Wir fuhren einfach durch. Wahrscheinlich war die Policia Federal mal wieder im Streik. Nichts Ungewöhnliches in Brasilien.

Gegen 02.00 Uhr nachts suchten wir uns kurz vor Campo Grande einen Schlafplatz abseits der Straße. Wir hatten am ersten Tag der Rückreise bereits fast die Hälfte der 2.200 Kilometer langen Strecke hinter uns gebracht.

Geweckt durch Hitze und Mücken im brasilianischen Teil des Pantanal machten wir uns recht früh wieder auf den Weg. Katja und ich wechselten uns alle drei bis vier Stunden ab und bretterten, gelockt von einem richtigen Bett und dem Pool hinter unserem Haus, über gute Straßen durch die eintönige Cerrado-Landschaft Richtung Brasilia. Entgegen aller vorherigen Erwartungen kamen wir tatsächlich Montagnacht gegen 01.00 Uhr zuhause an.

Jetzt hängen wir bereits den dritten Tag in den Seilen, kühlen uns im Pool ab und machen einfach nichts. Selbst der Hund bewegt sich kaum von der Stelle.

Auf dem Weg nach Sucre

Nach der Überquerung des Salzsees fuhren wir nach einer kurzen Pause in Uyuni durch die Berge weiter Richtung Sucre, der Hauptstadt von Bolivien. Im Kontrast zu vielen sehr schlechten Straßen in dem Land war der Weg ganz frisch zu einer asphaltierten Landstraße ausgebaut worden. Durch Zufall entdeckten wir ein Thermalbad auf 4.000 Höhenmetern.

Die Nacht verbrachten wir abseits der Landstraße in einer Kiesgrube:

Nacht im Freien

Salar de Uyuni

Der Salar de Uyuni ist mit circa 10.000 Quadratmetern der größte Salzsee der Erde und liegt 3.653 Meter hoch. Trotz dieser extremen Daten habe ich ihn mir größer vorgestellt. Da er umringt ist von teilweise über 5.000 Meter hohen Bergen, sind an jedem Punkt des Sees am Horizont Strukturen zu erkennen und man kann sich nicht verirren.

Vor der Überquerung haben wir zwei Nächte in Tahua, am Fuße eines 5.400 Meter hohen ehemaligen Vulkans übernachtet. Ich war von der Reiserei körperlich und mental am Ende und brauchte eine Verschnaufpause. Am Mittwoch, den 04. November 2015 fuhren wir dann morgens über den Salzsee zunächst zur Isla Incahuasi, einer Vulkaninsel mit uralten Kakteen und geologisch interessanten Formationen.

Dann querten wir den See Richtung Osten bis nach Colchani, einer trostlosen Ortschaft am Rande der Salzpfanne. Zwischendurch hielten wir an, um Fotos zu machen.

Fahrt mit uns die circa 70 Kilometer lange Strecke von der Kakteeninsel bis nach Colchani über den See:

Die Höhe, die Kälte, die Entfernungen, die Straßen und der Zeitdruck setzen uns zu

Diese Reise ist noch ein ganzes Stück weiter davon entfernt, erholsam zu sein, als der Ausflug in den Nordosten Brasiliens.

Da ist zunächst einmal die Höhe. La Paz, der Titicacasee, der Salar de Uyuni: Das alles liegt knapp unter 4.000 Höhenmetern. Bei den Fahrten durch das bolivianische Hochland gelangt man nie unter 3.600 Meter, im Gegenteil, man kreuzt mitunter Pässe, die auf über 4.500 Meter führen. Man sagt, der Körper würde sich mit der Zeit an die Höhe gewöhnen. Das ist eine Mär. In Wirklichkeit gewöhnt man sich an die Kopfschmerzen, die Atemnot, die geschwollenen Schleimhäute und den ständigen Durst. Die Höhenkrankheit trifft also nicht nur einige wenige Menschen, sondern bis auf die genetisch angepassten Tibetaner alle, auch die indigenen Völker Südamerikas. Die Folgen: Katja und Sylvia schmeißen die ganze Zeit Tabletten, und ich werde süchtig von Nasivin. Zudem müssen wir ständig pullern wie die Sextaner.

Selbst in der Nähe des Äquators wird es auf 4.000 Höhenmetern nachts empfindlich kalt. Wir campen mindestens jede zweite Nacht. Das bedeutet, die Abende sind kurz, die Nächte frostig und das Aufstehen bedarf Überwindung. Während im Norden Boliviens in dieser Jahreszeit noch Regen, Hagel und Schnee dazukommen, scheint im Süden des Landes tagsüber noch regelmäßig die Sonne und beschert uns immerhin fast T-Shirt-Wärme.

Die Entfernungen haben wir komplett unterschätzt. 1.500 Kilometer in zwei Wochen auf Landstraßen zu fahren, die teilweise nicht geteert sind, bedeutet, dass man fast jeden Tag unterwegs ist. Für Erholung bleibt dabei nicht viel Zeit.

Die Schotter- und Erdpisten zerstören auf Dauer unser Auto. Wir haben das hintere Gummi verloren, das den Auspuff am Wagen hält. Die improvisierte Notlösung aus Schlauchschellen und Kabelbindern hält das Rohr zwar in Position, macht aber bei jedem Schlagloch und bei jeder Bodenwelle ein fieses metallisches Geräusch. Zudem funktioniert der Motor der Heckscheibe nur noch sporadisch, wir können die Heckklappe also nur noch öffnen, wenn der Gott der Fensterheber uns wohlgesonnen ist. Die Alternativlösung, das Be- und Entladen von innen, ist umständlich und kräftezehrend.

Am Ende steht noch unser enger Zeitplan der Erholung entgegen. Sylvia muss am Sonntag, den 08. November von Santa Cruz zurück nach Brasilia fliegen, und Katja muss ihren Rückflug am Samstag, den 16. November von Brasilia aus antreten. Für Katja und mich liegen zwischen Santa Cruz und Brasilia noch circa 2.000 Kilometer, davon 600 Kilometer Schotterstrecke bis zur Grenze. Wenn alles gut geht, schaffen wir das in vier Tagen.

All diese Faktoren lassen die Stimmung nicht sonderlich in die Höhe steigen. Besonders ich bin mit den Nerven ziemlich runter. Die viele Fahrerei bereits im Vorfeld sowie die Sorge um das Auto lassen mich in einer anderen Dimension reisen. Ich bin jetzt bei circa 12.000 Kilometern in acht Wochen auf zum Teil sehr schlechten Straßen angelangt. So etwas mache ich nieeeeeee wieder.

Auf der Fahrt zum Salar de Uyuni

Nach dem Bergabenteuer am Huyana Potosi fuhren wir noch am selben Tag auf der Andenautobahn in Richtung Salar de Uyuni, dem größten ausgetrockneten Salzsee der Welt. Bevor es dunkel wurde, suchten wir uns einen Standplatz auf einem ehemaligen Acker.

Gegen Vormittag des Folgetages erreichten wir die einstige Bergarbeiterstadt Oruro. Die Damen waren der Meinung, der Wagen benötige eine Vollwäsche. Schade, ich fand die Patina unsers Gefährts just sehr ansprechend, zeugte sie doch von Abenteuer und wilden Offroad-Fahrten.

Doch schon bald hatten wir die Gelegenheit, dem Wagen sein gebührendes Äußeres zurückzugeben. Auf der Suche nach dem Ufer eines riesigen Sees südlich von Oruro blieben wir noch weit außerhalb der Sichtweite des Wassers im Schlick stecken.

Wir suchten uns einen Nachtplatz in der steppenartigen, 15 Kilometer breiten Uferzone und aßen zu Abend.

Am nächsten Tag fuhren wir dann durch eine bizarre Steppenlandschaft in Richtung eines 5.400 Meter hohen Vulkans, umrundeten ihn und gelangten zum Salar de Uyuni.