“A Senhora vai pagar isto para mim?” – Ich stehe im Carrefour vor der Kasse, sortiere mich selbst und will mich gerade mit einem prall gefüllten Einkaufswagen an einer vielversprechend kurzen Warteschlange anstellen. Es ist einer dieser riesigen Carrefours, die es scheinbar auf dem halben Erdball gibt und den wohl die meisten von uns in einem Frankreichurlaub irgendwann einmal kennengelernt haben. Die Regale sind schier endlos lang und hoch und es gibt so ziemlich alles, was man für den Alltag braucht oder auch nicht braucht. “A Senhora vai pagar isto para mim?” – Ich stehe auf der Leitung und erblicke mit einem vermutlich selten dämlichen Gesichtsausdruck ein sehr hübsches Mädchen mit langen schwarzen, zu einem Pferdeschwanz gebundenen Haaren, das mich mit großen dunkelbraunen Augen gleichzeitig schüchtern und erwartungsvoll anschaut. Doch da ist noch mehr. Da ist Scheu und Scham. Da ist Traurigkeit und Hoffnung. Da ist Verantwortung und Last. Und irgendwo hinter all dem ist da noch das Kind, das es sicher schon lang nicht mehr sein durfte. Jetzt erst dringen Sinn und Absicht ihrer Worte zu mir durch „Wird die Senhora das hier für mich bezahlen?“ In ihren Armen stapelt sie drei Teile, die sie einkaufen möchte und die sie offensichtlich nicht bezahlen kann: eine weiße Styroporschale mit Bratwürsten in Zellophan verpackt, ein paar sehr einfache blaue Havaianas (Flip-Flops – die billigsten) und ein tiefgefrorenes Hähnchen. Letzteres sieht gedrückt an ihrem kleinen Körper riesig aus. Sie regt sich nicht vom Fleck, atmet kaum. In Sekundenbruchteilen geht mir wieder einmal alles durch den Kopf was ich über bettelnde Kinder gelernt habe. Man darf ihnen nichts geben, weil sie das dann als Bestätigung sehen, … weil ihre Eltern sie dann weiter zum erbetteln des Lebensunterhaltes missbrauchen, … weil sie dann der Schule noch weniger Aufmerksamkeit schenken und sie ihr noch so junges Leben verwirken, … weil …. „In Ordnung, leg deine Sachen hier zu meinen aufs Band.“ Ihr „Danke“ ist leise, ihr Blick wandert zum Boden. Ich spüre, wie sehr sie sich wegwünscht aus dieser Situation, wie groß ihre Scham ist. Ich fühle mich hilflos und denke: Wenn ich ihr schon nicht wirklich helfen kann, dann will ich sie wenigstens aus dieser unwürdigen Situation befreien. Richtig oder falsch? Wer sind wir, das beurteilen zu können?
Sie heißt Bruna und ist zwölf Jahre alt. Sie hat sechs Geschwister. Der älteste Bruder ist 22, der jüngste ist 6 Jahre alt. Sie fragt höflich, ob sie mir helfen kann, meine Sachen aufs Band zu legen. Ich bejahe und sie ist erleichtert, etwas zurückgeben zu können. Als der Einkaufswagen geleert ist, hilft sie auf der anderen Seite der Kasse Karsten, die Waren in die große Einkaufskiste zu verstauen. Ein kleiner hübscher Junge, ihr sechsjähriger Bruder, gesellt sich zu ihr. Er hat dieselben großen dunklen traurigen Augen und kurze schwarze krause Haare. Auch er hat eine spärlich gefüllte Carrefour-Einkaufstüte in der Hand. Offensichtlich haben sich die Geschwister aus strategischen Gründen vor der Kasse getrennt. Ihr Einkaufsgut fischt sie aus unseren vielen Sachen heraus und steckt sie in eine Einkaufstüte. Ungeschickt lege ich noch zwei KitKat drauf, die ich gerade noch aus einem Pappkarton neben der Kasse angeln kann. Ich bin froh, dass sie sich nach einem weiteren schüchternen „Danke“ dann schnell verabschiedet und nicht mehr sieht, wie ich die 1.000 Reais (rund 250 Euro) für unseren Mega-Einkauf auf die Theke blättere. Irgendwie schäme ich mich plötzlich für meinen „Reichtum“.
Kaum haben wir den Laden verlassen, kann ich meine Tränen nicht mehr zügeln. Was mich so berührt, ist nicht einmal das Betteln an sich. Was mich so trifft ist viel mehr die Scham der Kleinen, die Pein. Sie wollte nicht betteln, das sah man sehr deutlich. Sie hatte aber offensichtlich keine Wahl. Vielleicht wurde sie geschickt von den Eltern, vielleicht wurde sie von ihnen allein gelassen. Wer weiß das schon. Die Metafrage für mich ist vielmehr, warum war ausgerechnet sie in einer solchen Situation? Was kann sie dafür, dass sie in einem sozialen Brennpunkt der Vorstädte Brasilias und nicht ein paar Kilometer weiter in einer der reichen Familien am Lago Sul geboren wurde?
In diesem Moment wurde sie für mich zur Stellvertreterin für die vielen Menschen hier, die mit ganz wenig auskommen müssen oder gar in Armut leben – in Kirschkernweitspuckdistanz zu der reichen Oberschicht und zum Teil auch sehr eng mit ihr verwoben. Die soziale Ungleichheit trifft hier mit voller Wucht aufeinander. Wenn ich morgens mit dem Auto aus unserem Condomínio zur Arbeit fahre, wie viele meiner Nachbarn, kommen mir zu Fuß die Reinigungshilfen und Gärtner entgegen, Tagesangestellte die jegliches Einkommen verlieren, sobald sie krank werden. An den Ampeln verkaufen junge Männer Putztücher, Mülltüten, Kaugummis oder Wasserflaschen, um sich von dem bisschen Gewinn zu ernähren. Auf den Parkplätzen arbeiten sie als „Einweiser“ und waschen für ein paar Reais die Autos der „Reichen“. Auf den breiten Grünstreifen der Autostadt Brasilia, an denen tagtäglich tausende Neuwagen und manchmal echte Luxuskarren langbrettern, leben Familien mit kleinen Kindern in Plastikplanen-Barracken. Die Kleinen und Kleinsten spielen am Lagerfeuer, keine 10 Meter entfernt von der 6 Spurigen Fahrbahn, das ist ihr Zuhause.
Warum ausgerechnet sie? Warum nicht ich oder du, die wir doch nur genauso zufällig in einem der reichsten Länder dieser Erde geboren wurden. In einem Land, das – verglichen mit dem Rest der Welt – dem Ideal der sozialen Gerechtigkeit schon ziemlich nah kommt. In dem seit 70 Jahren kein Krieg mehr ausgetragen wurde. Mit einem Bildungssystem, das auch Kindern aus Arbeiterfamilien wie mir und vielen anderen einen Hochschulabschluss und ein Leben in Wohlstand ermöglicht.
2013 lebten in Brasilien 52 Millionen Menschen ohne Ernährungssicherheit. Das entspricht zwei Drittel der Deutschen Bevölkerung. Von ihnen wissen 34,5 Millionen Menschen heute nicht, ob sie sich und ihre Familien morgen, übermorgen oder nächste Woche noch ausreichend ernähren können. Die anderen 17,5 Millionen Brasilianerinnen und Brasilianer – inklusive Kinder – verfügen de facto nicht über ausreichende Nahrung oder leiden unter chronischem Hunger (Quelle: PNAD 2013). So viele Menschen leben in Nordrhein-Westfalen.
Nun werden wir das Problem hier und heute nicht lösen können, das ist richtig. Was wir aber tun können ist ein kleines bisschen von dem abgeben, was wir haben. Beträge, die uns nichtig erscheinen, können anderswo „den Unterschied“ machen. Schon 5 Euro bedeuten Impfungen, Lernmaterialien, Nahrung. Es gibt unzählige gute Hilfsorganisationen in Deutschland, die dafür sorgen, dass Geld da ankommt, wo es gebraucht wird. Das kann ein Waisenhaus in Brasilien sein oder auch der Kindergarten um die Ecke. Bei den größeren Organisationen gelingt Spenden mit wenigen Klicks in 5 Minuten, wie z.B. bei Ärtze ohne Grenzen e.V. oder ChildFund Deutschland. Kleineren Projekten, wie beispielsweise der Initiative Feuervogel in Aachen für Kinder suchtkranker Eltern, kann man mit einer Banküberweisung Spenden zukommen lassen. Es klingt so abgedroschen, aber jeder Euro zählt.
Wer sich genauer erkundigen möchte, ob sein Geld auch gut angelegt wird, der kann einen Blick auf die Seite des Deutschen Zentralinstituts für soziale Fragen werfen. Unter folgendem Link gibt es einer Liste mit zertifizierten Organisationen.
Und wer von euch an dieser Stelle einen Spenden-Tipp loswerden möchte, sei dazu herzlich eingeladen. Oder schreibt einfach, wo ihr dieses Jahr gespendet habt.
Schöne Tage und frohe Weihnachten wünscht euch
Sylvia!