Viel passiert in den letzten Tagen. Freitagmittag, nach viereinhalb Tagen Fahrerei bin ich am Meer angekommen. Mein Ziel war das Fischerdorf Tatajuba, das umgeben von Dünenlandschaften ungefähr auf der Hälfte des Weges von Fortaleza zum Parque Nacional dos Lencois Maranhenses liegt. Dorthin zu kommen war ein wenig trickreich. Erst musste ich von der Hauptstraße abbiegen und einige Kilometer auf einer Hoppelstrecke Richtung Ozean fahren. Dann kam ich an einem Ort an, der zwar am Meer lag, jedoch noch einige Kilometer östlich von meinem Ziel lag. Der Weg nach Tatajuba führte bei Flut über eine Sandstraße durch die Dünen. Bei Ebbe nahm man den Highway über den Strand. Dort stieg ich auch das erste Mal aus dem Wagen. Mein erster Eindruck: ganz schön heiß, windig und sandig. Der Hund rastete total aus. Es gibt zwei Dinge, die er abgöttisch liebt: Schnee und den Strand. Ich entledigte mich meiner Klamotten und sprang ins Meer. Das Wasser war pisswarm. Der Atlantik einmal ganz anders. Kein Vergleich zu den Wassertemperaturen in der Normandie.
Während ich beim Trocknen gesandstrahlt wurde, huschten mehrere Strandbuggys mit Touristen im typischen Outfit vorbei. Okay, selbst hier gab es organisierten Tourismus. Ich zog mich wieder an und folgte den Spuren der Buggys, welche nach einigen Kilometern den Strand verließen und landeinwärts führten. An der ersten Strandbar auf einer kleinen Düne hielt ich an. Die Bar war vollkommen leer. Nur eine lächelnde ältere Frau stand hinter der Theke. Ich stieg aus und begrüßte sie mit einem Kommentar über die Schönheit des Ortes. Die Frau hieß Dalmira und war sehr freundlich. Während ich eine obligatorische Kokosnuss – die Getränkeauswahl bestand aus Bier, Wasser und Kokosnuss – ausschlürfte wollte sie mir den Ort erklären. Ich verstand aber nur die Hälfte. Als sie das erkannte, fragte sie mich, ob ihr Sohn mir den Ort zeigen sollte. Ich müsste sie nur zu ihm fahren. Ich willigte ein, und wir fuhren zusammen ungefähr einen Kilometer über eine Sandstraße in eine kleine Ansiedlung. Ihr Sohn hieß Chaga und war Fischer. Auch er war sehr freundlich und zog sich erst einmal feinere Klamotten an, bevor er auf dem Beifahrersitz platznahm. Während Dalmira zurück zu ihrer Strandbar lief, fuhren Chaga und ich durch die Dünen. Es gab ausschließlich Sandstraßen, die teilweise sehr versandet waren. Für mich war es das erste Mal, dass ich mit einem Allradfahrzeug über sehr lockeren Sand fuhr. Während unserer einjährigen Reise nach Zentralasien hatte ich mit unserem alten VW LT mit Hinterradantrieb immer gehörigen Respekt vor diesem Untergrund, da wir uns mehrfach festgefahren hatten. Jedes Mal bedurfte es viel Zeit und Schweiß, uns mit Schaufel, Wagenheber und Sandblechen zu befreien. Doch der Toyota ließ sich einfach nicht vom Sand beindrucken. Immer, wenn wir nicht mehr weiterkamen und die Reifen schon tief im Sand steckten, reichte es aus, die Geländeuntersetzung einzulegen und uns in kleinem Gang mit viel Drehzahl freizuwühlen. Ich war begeistert. Nicht so begeistert war ich davon, dass der Motor an einer Stelle in tiefem Sand vollkommen überhitzte und sogar ausging. Ich dachte schon, ich hätte ihn geschrottet und bekam ein sehr mulmiges Gefühl im Magen. Doch nachdem wir fünf Minuten gewartet hatten, sprang er wieder an, und ich fand heraus, dass das Antriebsaggregat bei viel Schlupf hohe Drehzahlen benötigt, um nicht zu überhitzen. Der Ventilator hinter dem Kühler hängt über eine Viskosekupplung an der Nockenwelle und dreht dadurch nur mit hohen Umdrehungen, wenn der Motor hoch dreht. Nachdem ich das verstanden hatte, legte ich auf losem Untergrund stets einen kleinen Gang ein und siehe da, die Motortemperatur blieb im grünen Bereich, auch bei Vollgas.
Trotzdem kehrten wir um. Wir hatten das Fischerdorf gesehen, in dem es bereits Ansätze von touristischer Infrastruktur gab, eine große Wanderdüne sowie mehrere Strandbars. Wieder beim Haus von meinem Fremdenführer Chaga angekommen, fragte ich ihn, ob er für seine Führung eine Entlohnung haben möchte. Er bejahte dies, und als ich ihn fragte, wieviel er möchte, sagte er, soviel ich will. Ich gab ihm 24 Real. Soviel hatte ich noch an kleinerem Geld im Portemonnaie.
Nachdem ich mich verabschiedet hatte, war ich ganz durch von der vielen Fahrerei. Ich suchte mir einen Platz am Strand unterhalb der Bar von Dalmira zum Übernachten.
Kurz vor Sonnenuntergang kam Chaga mit seinem Moped vorbei. Sein kleiner einjähriger Sohn saß vorne auf dem Tank. Das Moped war hier die Familienkutsche. Während des Tages hatte ich ganze Familien – Mann, Frau und zwei Kinder – auf einem Moped durch den Sand fahren sehen. Chaga bot mir an, an seiner Strandhütte zu übernachten. Diese hatte ich schon beim Abendspaziergang gesehen. Doch bei Flut war sie vollkommen vom Festland abgeschnitten und dabei wäre mir unwohl gewesen. Dann sagte er mir noch, dass es kein Problem sei, am Strand zu übernachten. Die Menschen, die in dem Ort wohnten, seien alles seine Freunde.
Die Nacht verlief sehr ruhig. Am nächsten Morgen wanderte ich durch den Ort und durch die Dünen. Ich wollte die Infrastruktur genauer verstehen. Am Vortag waren wir während der Führung über so viele Wege gefahren, dass ich ständig die Orientierung verloren hatte. Tatsächlich stellte sich heraus, dass die Sandwege variabel von Ebbe und Flut abhängig waren. Eine ganze Reihe an Wegen war nur bei Ebbe befahrbar. Nach der Wanderung kam ich auf dem Rückweg an Dalmiras Bar vorbei und ich fragte sie, ob ich mich mit meinem Wagen neben die Bar stellen durfte. Sie willigte ein, und ich stellte mich unter einem Baum neben die Bar in den Schatten. An diesem Tag war Dalmira nicht allein. Ein älterer Mann – offenbar ich Ehegatte – sowie mehrere junge Männer – offenbar weitere Söhne – und Kinder – offenbar ihre Enkel – waren bei ihr. Auch die gegenüberliegende Strandbar, die am Vortag verlassen war, war mit Personal besetzt, jedoch weit und breit außer mir keine Kunden. Ich setzte mich an einen Tisch und bestellte eine Kokosnuss und ein Wasser für den Hund. Dann saßen wir alle da und schwiegen. Seltsame Stimmung, dachte ich mir. Es lag etwas von Spannung in der Luft, als ob in Kürze etwas passieren würde. Und tatsächlich, erst kam ein Buggy mit zwei typischen weißhäutigen Touristen mit der obligatorischen Kamera vor dem Bauch. Sie tranken etwas, und man bot ihnen Girlanden aus Fischschuppen und Holz an. Dalmira erzählte hinter der Theke mit einem Wellensittich auf der Schulter eine Geschichte über den Ort und die Kirche, die von einer großen Wanderdüne zerstört worden war. Dann fuhren vier Toyota Pickups mit jeweils 8 Touristen an Bord vor. Auf einmal war ein Riesenbohei. Es wurde Bier getrunken, Fotos gemacht, Souvenirs gekauft und auf Eseln geritten. Dalmira spulte immer wieder ihre Geschichte ab. Ich verzog mich in eine Ecke und verstand plötzlich ihr Geschäft. Wahrscheinlich bekamen die Fahrer der Wagen von ihr Geld, damit sie die Touristen bei ihr abluden.
Nach der dritten Ladung Touristen verzog ich mich ins Auto und ruhte mich aus. Als ich gegen Nachmittag nach einem Nickerchen wach wurde, war man dabei, die Bar aufzuräumen. Die Touristen waren verschwunden. Ich wollte meine Getränke vom Vormittag bezahlen, wurde aber von Dalmira eingeladen. Wir unterhielten uns noch ein wenig, während die Kinder mit Loukas spielten. Dann bot sie mir an, für die Nacht das Haus neben dem ihrer Mutter zu nutzen. Das würde leer stehen. Ich willigte ein, und als man fertig mit Einpacken war, fuhren sie und ihr Mann mit dem Moped voraus, und ich nahm drei Kinder im Auto mit.
Wir kamen wieder zu dem Haus, wo ich am Vortag ihren Sohn Chaga getroffen hatte und wir die Führung begonnen hatten. Ich durfte mit in das einstöckige Haus, das für unsere Verhältnisse unglaublich spartanisch eingerichtet war. Chaga lag mit seinem kleinen Sohn in der Hängematte und schaute fern. Das Bild war vollkommen verrauscht und kaum zu erkennen. Ich fragte ihn, wie das Fischen war, und er entgegnete, dass heute Samstag wäre und er am Wochenende nicht arbeiten, sondern in die Kirche gehen würde. Er sei Evangelikaler. Früher hätte er viel Alkohol getrunken und hätte sein Leben nicht im Griff gehabt, doch seitdem er religiös sei, verliefe sein Leben besser. Ich fragte ihn, ob der Tourismus das Leben der Familie stark verändern würde, und er sagte, dass sie viel mehr Geld mit der Bar und dem Verkauf der selbstgemachten Girlanden verdienen würden als mit dem Fischen. Mir wurde klar, dass diese Menschen derzeit eine große Veränderung durchmachten. Vor 20 bis 30 Jahren war das Leben an diesem Ort offenbar noch wie im Mittelalter. Jetzt gab es Strom, eine lukrative Einkunft und scheinbar auch eine akzeptable gesundheitliche Versorgung.
Das Haus hatte noch drei weitere Zimmer, in denen sich noch eine unübersichtliche Anzahl von Menschen – Erwachsene und Kinder – befanden. Später fand ich über Francisco, einem weiteren Sohn Dalmiras, heraus, dass sie neun Kinder zur Welt gebracht hatte. Drei davon seien schon als Baby verstorben, so dass sie sechs Geschwister seien. Ein nicht geringer Anteil davon lebte mit wiederum eigenen Kindern in dem Haus. Chaga fragte mich, ob ich mich waschen wollte, und als ich die Frage bejahte, zeigte er mir das Badezimmer. Es bestand aus einem Klo mit einer Sickergrube darunter und zwei Bottichen Wasser. Ich überlegte, mich zu überwinden, doch dann fragte ich, ob ich einfach nur Wasser haben könnte. Schließlich hatte ich eine Solardusche. Chaga führte mich zu dem Brunnen hinter dem Haus, wo die Palmen standen, deren Kokosnüsse sie in der Bar verkauften. Über eine elektrische Pumpe und einen Schlauch pumpten wir Wasser in den Beutel meiner Solardusche. Dann wurde ich noch in das Haus der Großmutter geführt, die im Nebenhaus in einem Zimmer mit einem Bett und einem Fernseher lebte. Das Haus daneben, das zwei Zimmer hatte, wurde mir angeboten. Darin befand sich nichts. Es handelte sich quasi um einen Rohbau. Doch ich holte aus dem Auto das Klo, den Kocher und die Gasflasche sowie Stühle und den kleinen Tisch. Dann machte ich mir die erste warme Mahlzeit auf der Reise. Am Abend ging ich wieder spazieren und genoss den Ausblick auf der großen Wanderdüne.
Während der ganzen Zeit kam ich nicht auf die Idee, ein einziges Foto von der Familie oder dem Inneren der Häuser zu machen. Mir war klar, dass hier eine echte Begegnung stattfand. Dalmira hatte erkannt, dass ich kein Tourist, sondern ein Reisender war, dem es an echten Eindrücken gelegen war. Und sie hatte sich ihre Gastfreundlichkeit trotz der vielen Touristen bewahrt. Als ich von meinem Abendspaziergang zurückkam, erzählte sie mir davon, dass vor einiger Zeit einmal ein chilenischer Reisender, der mit dem Fahrrad unterwegs und völlig dehydriert in ihrer Bar angekommen war, für drei Monate bei ihnen gelebt hätte. Offenbar hatte auch sie ein Interesse an echten menschlichen Begegnungen.
Heute Morgen habe ich mich von der Familie vorerst verabschiedet. Ich bin auf dem Weg Richtung Fortaleza, um dort Sylvia, Beatrix und Andreas vom Flughafen abzuholen.
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